Mein Jakobsweg, mi camino, Teil 15

01.06
Burgos – Hornillos del Camino.

Schon wieder die gleichen Leute am Morgen in diesem Café in Burgos. Sollte es sich um das Barpersonal handeln? Komme spät los, schüttele die Nacht und die Müdigkeit ab, gehe noch einmal an der Kathedrale vorbei. Das war jetzt einfach Urlaub vom Camino, drei Tage und die waren gut. Es geht jetzt in die staubigen Mesetas. Doch im Frühsommer, vor der Ernte, sind dort nur große grüne Weizenfelder. Weizen und HImmel, unter dem sich manchmal eine Talsenke öffnet, Ausblicke die mir bekannt vorkommen wie die schwache Erinnerung an einen Traum.

Abschied von Burgos
Abschied von Burgos

Ich gehe sehr langsam.

Die Berge stoßen durch das Grün hoch, wie Eruptionen von steinernem Treibeis, sie tragen Felsentrümmer auf ihren Spitzen, und ihre Flanken sind in weißem Staub eingetrocknet.
Die Pappeln lassen luftige Baumwolle fliegen, weiße Seide. Liegt wohl in der Natur der Sache, dass ich auch mmer an Andenken denke, eines der schönsten Gedichte Hölderlins: An Feiertagen gehen die braunen Frauen daselbst auf seidenen Boden. Dazwischen trockenes Stapfen durch die Dörfer, kleine Steinsiedlungen.

Ein jeder ruhe im Schatten des anderen.
Ein jeder ruhe im Schatten des anderen.

In einem Pferch eine Herde glattgeschorener Schafe, ganz in der Hitze zusammengedrängt unter einem viel zu kleinen Baum. Ich denke: Ein jedes suche den Schatten des anderen. Nein, ein jeder ruhe im Schatten des Anderen. Pulks von Tauben picken. Ich halte oft an Steinhaufen, die in der morgendlichen Schärfe wie kleine Landschaften wirken, die Blüten über sich gezogen haben und sich mit Kreuzen schmücken.

Vor dem Mittag war der Morgen voller Magie, doch die Sonne steigt. Das Grün wird bleich jetzt, wächsern, die Stille erst festlich, dann trocken. Wie mit dem Griffel ausgekratzt ziehen sich Bachläufe durch hartes Grün. Der Himmel ist erst prächtig blau, dann fahl. Mittagszeit, die Schatten ziehen sich erschrocken zurück, vor der Gewalt der Sonne.

Weizenfelder stemmen sich gegen die Berge, werden dabei Gistergelb und mohnrot.

Landschaft geschottert und geschichtet. Auf den fernen Hügeln weiß man nicht mehr, wo die Äcker aufhören und die Steinwüsten beginnen. Ganz weit weg treiben Berge im Blau mit weißen Schneeflächen.

Geschichtete Landschaft
Geschichtete Landschaft

Hier hat nicht nur Don Quichote Pause, auch die Windmühlen ruhen. Weiße Spargel, die den Wind von sich abtropfen lassen, als ginge er sie nichts an.

Gehen ist wie meditieren oder wie ein Gebet.

Gelb von Ginster und Rot vom Mohn, Ich habe die großen Dinge hinter mir, die Pläne B und C geschmiedet, Bäumen und Schatten gibt es kaum mehr, aber tatsächlich einen schön angelegten Rastplatz, bestanden mit Pappeln. Die Blätter der Pappeln flattern wie Vögel und rascheln, ich schließe die Augen und das Rascheln und Flattern hört sich an wie Regen, ein Regen aus Grün und Ruhe.

Schreibe mein Gedicht weiter, aber der Schluss gefällt mir noch nicht.
Die Königin

Die Nacht aber war hell unter den Kirchenbogen
Und als wir Küsse tauschten
Wurden sie wie Worte,
Die sagten, geh nicht

Und deine Spur noch Königin stand
lange wie langsam bröckelnder Stein
Unter den Sternen,
bis sie verwehte, wo du gingst,
zu Staub.

Ich aber trieb lange
den Fluß mit dem Totholz der Jahre
bis dahin, wo die Wasserfälle sind,

Tausend Tropfen, Geliebte,
Worin du dein Wasserzeichen webst.

Und Perlen auf das Ufer rieseln,

Weil du wieder da bist.
Will mich für das Geschenk bedanken, auf dem Weg zu sein. Doch hier in Kastilien sind die Kirchen meist geschlossen.
Leute, eine Kirche, die zu ist, nützt keinem was!
Weder Gott, noch dem Priester, noch den Gläubigen. Versuche gedanklich herauszufinden, warum man stahlblauer Himmel sagt, schließlich ist Stahl alles andere als blau. Vielleicht war es einst ein Wort für einen eisernen Himmel, der grau war, und hat sich dann in der Bedeutung verselbstständigt. Sicherlich nicht nötig, darüber einen Aufsatz zu schreiben, denn den gibt es sicherlich schon. Wie sagte einst mein alter Freund, der Chaosforscher Otto E. Rössler, niemand kann das Rätsel der Farben erklären.

Der Hügel von Castrojeriz
Der Hügel von Castrojeriz

image

Fritz The Cat habe ich nicht mehr gesehen, und würde gerne wissen, wo er steckt. Flugs, das Camino-Radio eröffnet, und damit ein Vermögen verdient. Sagt zuverlässig durch, welche Herberge in welchem Dorf belegt ist, gibt Tipps für die lange Wanderschaft, und weiß zuverlässig, wer mit wem und wo die auffälligen Figuren gerade rumhängen.

Ich steige von den Weizenhochebenen ab nach Tardajos.
Raste in einer kleinen Eremitage, ein Kirchlein kaum größer als eine Telefonzelle, fülle am Brunnen die Flasche.

In der Bar gegenüber der Kirche tschilpt es gewaltig. Die Schwalben haben genistet, drei Londoner Girls haben sich eingenistet, sind schon gut an die 70 und erzählen vom Schüleraustausch nach Deutschland. Freunde geblieben eine Leben lang, für die Deutschen damals muss es ein Betonhammer auf den Holzkopf gewesen sein, aus dem spießigen Frankfurt in das Swinging London gekommen zu sein. Die Älteste hat noch so etwas British unbewegliches in ihrer Gestik, den Kopf ganz gerade, die Augen unverwandt auf die Dinge gerichtet.

Während ich mich erhole, schimpfen die Schwalben. Ich betrachte lange ihre braunen Kehlen, weil sie mich an die schönen alten Drucke erinnern, die den Tierbüchern des 19. Jahrhunderts beigegeben waren. Ich muss ja noch herausfinden, warum die vielen Koreaner auf dem Camino sind. Koreamino, Koreatino. Ein Österreicher behauptete, das würde ihre Berufsschancen verbessern, aber das glaube ich nicht. Ein koreanischer Junge kann kaum mehr gehen, ist an seinen Grenzen und wartet erschöpft unter einem Dachvorsprung. Ich frage ihn: Er will sich selber finden. Mit diesem Satz belehrt er mich und ich belehre ihn: Nur wenn du deine Grenzen findest, kannst Du dich selbst finden, denn du bis ja innerhalb ihrer.
Dass man sich nicht findet, sondern sich selbst erschaffen muss, kann er noch nicht wissen, auch nicht, dass jede Selbstkonstruktion eine Lüge ist und irgendwann scheitert. Bis man sich neu erschaffen muss. Wir müssen uns Sysiphus als glücklichen Menschen vorstellen.

Aber ich verstehe jetzt, warum das Leben eines jungen Mannes so sehr von Grenzgängen geprägt ist.

Die Berge sind wie Schnecken davongezogen und haben eine grünschillernde Spur auf der Erde hinterlassen. Es ist unmöglich keine Fotos von Mohn und Korn zumachen, unmöglich auch, keine Bilder von Himmel und Äckern zu schaffen, ein Zauber legt sich auf die Fluren, wie ich ihn noch nie erlebt habe.

In Hornillos del Camino wartet der dicke jemütliche Lutz mit einer Büchse Bier. Ganz familiäres Refugio mit Innenhof, in denen die Pilgerei den Fußpilz lüftet und nebenbei am Händy spielt. Wir essen gemeinsam. Ich muss mal wieder übersetzen, die gute Herbergshilfe sucht leise piepsend einen „onteiler“, Ich brülle „John Taylor“ über den Tisch und als sich ein würdiger älterer Herr meldet, bekommt er einen herrlichen Salat serviert, worauf ich brülle, ich sei auch John Taylor.

Mist, schon wieder sitze ich beim Scheißen im Dunkeln. Die Spanier haben in den besseren Klos Bewegunsmelder installiert, die immer dann das Licht ausschalten, wenn es am Schönsten ist. Ich wackle mit sämtlichen noch beweglichen Teilen meines Körpers, um das Licht wieder in Gang zu bringen. Versuche, die durchschnittliche Dauer eines spanischen Schisses aus der durchschnittlichen Leuchtdauer des Bewegungsmelders zu berechnen, kann aber im Dunkeln mein Handy und damit den Taschenrechner nicht finden. Beschließe, einen elektrischen Tasmanischen Teufel zu erfinden, der auf dem Klo hüpft, damit das Licht anbleibt, und will damit ein Vermögen verdienen.

Meine Achillessehne ist so dick und entzündet wie eine ungarische Paprika. Ein Schamane ist da, legt das Bein auf den Schoß und heilende Hände darüber. Ich soll mit ihm reden, und erkläre die Tiefenmetaphorik in Hölderlins Gedicht „Andenken.“
Der gesunde Fuß fängt plötzlich an, unkontrolliert zu zittern, der kranke jedoch liegt fett und schwer da wie tot. Muss es wohl doch bei den Sportmedizinen in Tübingen versuchen.

2.6

Hornillos del Camino-Castrojeriz

Weiter durch die Mesetas, ich glaube meinem Reiseführer, dass Mesetas Tischchen heißt und damit die kleinen Berge gemeint sind, die über die Weizenwellen kriechen. Der Zauber hält an bleibt, ich schicke meinen Freunden ein wogendes Weizenfeld. Das einfachste ist das schönste. Natternköpfe, Kornblumen und immer wieder Mohn. Auf den Kirchtürmen nisten Störche, wo sie hingehören. Die Pfeile auf dem Weg werden weniger, aber man kann den Klecksen von Sonnemilch entlang gehen. Später wird mir klar werden, dass die weißen Flecken Vogelscheiße sind. Hey kalter Wind wo kommst du denn jetzt her? Ich folge den verendeten Bananenschalen, die schwarz gebogen auf dem Weg liegen wie Krähenfedern
So verlaufe ich mich nicht, wie auch. Der Weg zieht sich meist kiesig, manchmal geröllig geradeaus.

Die Ruinen von San Anton
Die Ruinen von San Anton

Gegen Ende des Tages warten die Ruinen von San Anton, jetzt gottsallmächtig mit allen möglichen Schildern und Hinweisen ausgestattet auf denen ein Tau prangt, der Buchstabe vom heiligen Toni. Damals, erinnere ich mich, führte ein Feldweg durch. Damals waren zwei ältere Holländerinnen mit mir im Quartier, die mir auf den Wecker gingen und die Angst hatten vor den Hunden in der Ruine. Es gab keine Hunde. Die Damen hatten nur das Wort „Pero“, Stein, mit dem Wort „Perro“: Hund verwechselt. Jetzt aber ist keine Verwechslung mehr möglich. Die Ruinie ist eingezäunt und gesichert, und die Schilder warnen jetzt tatsächlich vor dem Perro, dem Hund, der den Campingplatz dort bewacht.

„Die machen machen zu viel Lärm, die Deutschen“, sagt ein Franzose. Ich erkläre ihm, dass ich Deutscher sei, aber französisch sprechen würde. Der Mann hatte vor dem Kirchenportal geschlafen, und geht jetzt durch die Kneipen um zu betteln. Der Weg hat diesen Mann verschlungen. Er lebt auf dem Weg und von dem Weg, bettelt sich durch kommt niemals an, hat sein Zuhause ausgegeben. Er hat keine Zähne mehr, an die Siebzig, die Haut wie die eines Panzernashorns, Wollmütze, stinkt.

Die beiden deutschen Mädchen haben sich getrennt. Die ältere ist weiter gezogen, die jüngere, die mehr Zeit hat, bleibt, um sich auszukurieren. Sie hat die Füße offen. Sie hatte sich in Burgos Sandalen gekauft und war ohne Socken in den Sandalen gewandert, kein Wunder. Wer hat eigentlich behauptet, man dürfe in Sandalen keine Socken anziehen? Kretins und Modelaffen – jetzt muss die Kleine die Rechnung zahlen. Auch hat sie sich die Blasen aufgestochen und damit offene Füße. Auf dem Camino gibt es dazu geteilte Meinungen. Ich steche sie nicht auf, weil ich mir denke, dass die absterbende alte Haut und das Wasser die junge Haut darunter schützt. Die Italiener haben die Blasen des Mädchens aufgestochen und Fäden durchgezogen, damit das Wasser rauskommt. Weiß nicht ob, das gut ist. Jedenfalls hat sie sich aus Damenbinden saugfähige Einlegesohlen gebastelt.

Unsere Unterkunft ist gleichzeitig eine alte Kelter und ein überschwänglicher Herbergswirt führt uns in den Keller, den noch die Römer gebaut haben. Auch die Reste einer Weinpresse sind zu besichtigen, und ich erprobe meine Schauspielkünste, indem ich im Schweiße meines Angesichts, die Presse bediene. Es geht ganz leicht, zumindest für mich. Ich darf das, hab ja auch den Presseausweis dabei.

Der Manager: Mich hat es komplett zerlegt. selbst und ständig, selbstständig, die haben mich am Heiligen Abend um 17 Uhr angerufen. Ich war so kaputt. Er will jetzt mit den Händen arbeiten, vielleicht Häuser renovieren und verkaufen.

Der Mann: Ich will das ganze vergessen. Wenn mich jemand fragt, sage ich, dass ich bin hier aus Interesse aus Abenteuerlust.
Die Französin: Sie hat Leukämie und weint oft. Sie ist von Paris aus gegangen. Die ersten 40 Tage wurde sie gefragt, „und du bist ganz alleine?“ „Ganz alleine.“ „Und du hast keine Angst gehabt?“ „Angst wovor?“, hat Sie geantwortet. Am 41 Tage haben sie zwei Männer verfolgt mit dem Auto im Wald. Sie wartete ab, fotografierte das Nummernschild. Dann verzogen sich die zwei. Vom 42sten Tage an hat sie auf die Frage, „hattest Du keine Angst geantwortet?“ „Ja ich hatte Angst.“

Ich trinke auf die Zukunft, sie auf die Gegenwart. Die Sekunde, die Minute, dieser Punkt der mathematisch nicht fassbar ist, zwischen Vergangenheit und Zukunft, der unendlich klein zu sein scheint, und der doch alles beinhaltet, unser ganzes Leben, alles was geschieht. während die Vergangenheit eine Konstruktion und die Zukunft eine Illlusion ist. Ist Gott derjenige, der mit beiden Händen den Zeitstrom auseinanderstemmt, damit es einen Platz gibt für uns, für unsere Gegenwart?

Zeit existiert nicht, sagt sie brüsk.

Leise zischen meine Füße, als ich sie in den Whirlpool hänge, um die Entzündungen zu lindern. Durch den Garten flattern Fledermäuse. Immer und immer wieder kreiseln sie um die Ruinen eines zusammengestürzten Wohnhauses wie schwarze Schmettterlinge.

3.6

Castrojeriz – Fromista.

Castrojeriz ist ein Straßendorf, das lange unter einem Hügel auf bessere Zeiten gewartet hat, bis sie eben mit der Renaissance des Caminos kamen. Für das Schloss auf dem Hügel kam die Renaissance zu spät, es ist nur noch Ruine, und für die vielen Kirchen und Klöster ist noch kein Plan ersichtlich. Eine gewaltige Walze aus Landschaft liegt quer hinter Castrojeriz und die Pilger erklimmen die Stufe jeder auf seine Weise. Ich mach langsam. Knirsche den Kies hoch und freue mich an den Blumen.

Ich denke mir für das deutsche Mädchen einen Witz aus, um sie aufzuheitern. schreibe, sie könnte sich die Damenbindeneinlegesohlen patentieren lassen und unter dem Namen: Always Ultreya vermarkten.

Auf der Höhe sehe ich lange ins Land und schreibe. Ferne Hügel sind mit Windmühlen bestanden. Wo sonst sollte man Windmühlen bauen als in Spanien. In der Reflektion der Gegenwart gelingt es mir, das Gedicht zu beenden.

 

Die Königin

Die Nacht aber war hell unter den Kirchenbogen
Und als wir Küsse tauschten
Wurden sie wie Worte,
Die sagten, geh nicht

Und deine Spur noch Königin stand
lange wie langsam bröckelnder Stein
Unter den Sternen,
bis er verwehte, wo du gingst,
zu Staub.

Ich aber trieb lange
den Fluß mit dem Totholz der Jahre
bis dahin, wo die Wasserfälle sind,

Tausend Tropfen, Geliebte,
Worin du dein Wasserzeichen webst.

Wo Perlen auf das Ufer rieseln,
Damit ich dich finde

Und lachend unter Bäumen,
wächst unsere Sekunde
Und hält.
Ich posiere wie einst Goethe in der Campagnia und nenne es „impressionistischer Poet in einer bukolischen Landschaft“, gemalt hat es halt nicht Tischbein, sondern Tabletstick.

Stolte in der Campagnia (v. Tabletstick)
Stolte in der Campagnia (v. Tabletstick)

Lutz erklärt mir die wasserbaulichen Einzelheiten des Kanals von Fromista. Der Kanal diente nicht nur der Schifffahrt, sondern auch als Bewässungsanlage. Auf demTreidelpfad geht es entlang nach Fromista. Mittlerweile ist es richtig heiß geworden, ich kann kaum weiter.

Eine Aufgabe des Lebens ist es, die Harmonie zwischen Freude und Leid zu schaffen, so hat mich Friedrich Hölderlin gelehrt. Ich balanciere den Wanderstock mit einem Finger aus und lerne dabei: Du bist es, der den Finger auf genau den Punkt setzt, der Freude und Leid ausbalanciert. Du bist es selbst.

Die Kirche von Fromista
Die Kirche von Fromista

Die Kirche von Fromista ist ein absolut säkularer Ort. Im Eintrittskartenhäuschen dudelt dass Radio. Ich kann Gott nicht finden, also gehe ich mit dem Manager und Lutz essen. Schwalben umschwirren die Kirchtürme wie Bienen. Vor 25 Jahen war ich alleine im Ort, das weiß ich noch und eine Pilgergruppe kam mit dem Bus an. Als sie einen leibhaftigen richtigen Pilger sahen, reihten sie sich auf und sangen mir zu Gefallen einen Choral.

Der Manager hat die Herbergsbetten klar gemacht und ich merke, wie mir das gegen den Strich geht. Versuche, Strategien der Macht zu analysieren:

Erste Strategie der Macht. Jemand drängt sich auf, dir einen Gefallen zu tun. Damit fällt er für dich die Entscheidungen und Du bist ihm darüber hinaus noch verpflichtet.

Zweite Stragie der Macht: Grenzen aufstellen und sich mit bestimmten Verhaltensweisen isolieren. Jeder, der dann zu dir möchte, muss dieses Verhalten nachmachen. Beispielsweise lästert der Manager über diesen oder jenen Pilger, und wenn du mit ihm im Gespräch bleiben willst und seine Bekanntschaft erhalten, musst du mitlästern.

Dritte Strategie der Macht: Augenscheinlich vernünftige Aufaben verteilen. Denn die Dinge müssen ja gemacht werden, so die Lüge, die hinter dieser Strategie steckt. Wir Pilger hängen rum und alles ist okay, bis der Manager anrückt und sagt, wir müssten das Hotel anrufen, wir müssen reservieren, mir müssen uns die Route angucken, sofort hört alles auf ihn.

Erkenne, dass der Mann nie etwas anderes gemacht hat, als mit Menschen zu spielen. Nicht mit mir. Ich müsste ihn jetzt angreifen, sehe aber ein, dass er krank ist und rede nicht mehr mit ihm. Er klammert sich sofort an ein deutsches Eherpaar. Die Armen. Da ich ja nun trotz heftiger Konkurrenz versuche, der erfolgloseste deutsche Schriftsteller zu sein, wird mir klar, wie krank diese Erfolgsstrategien sind und schließe: Wenn man krank sein muss, um ein Star zu sein, ist es besser, man ist kein Star.

4.6.

Frommista – Carrion de Los Condos

Ein Liegeradtandem
Ein Liegeradtandem

Gegen acht Uhr frühstücke ich vor der Kirche. Eine Badenerin marschiert tapfer über den Platz. Schwalben stieben. Sie will auch mal den Jakobsweg in Frankreich machen, traut sich aber nicht, weil sie kein Französisch spricht. „Sprichst Du denn Spanisch?“ „Noi“.

Ein Liegeradtandem rollt an, und bietet die Gelegenheit, mal über etwas anderes zu sprechen als über Machtstrategien. Zwei Niederländer auf dem Weg nach Santiago. Und immer die Schalben, jetzt auch vor dem bedeckteren Himmel. Endlich kann ich aus dem Flug der Schwalben das Wetter vorsagen: Wenn die Schwalben vor dem blauen Himmel schwirren, dann ist es gutes Wetter, wenn sie vor bedecktem Himmel schwirren, dann könnte es sich ändern und wenn sie nicht fliegen, weil es regnet, dann ist schlechtes Wetter.

Der Weg nach Carrion de los Condos ist eine Ameisenstraße, geht schnurgerade einer schnurgeraden Straßen entlang, die einzige Abwechslung bieten die echten Ameisenstraße, die den Weg rechtwinklig queren und eine Koreanerin. Noch immer will ich ja das Rätsel lösen, warum so viele Koreaner auf dem Camino pilgern.

Die Koreanerin sucht sich selber. „Ist doch leicht“, scherze ich, „ich hab nicht mal zehn Sekunden gebraucht, um dich zu finden.“ Okay, okay, aber der Spruch hat auch was mit der Frage von innen und außen zu tun und der Grenzen. Sie erklärt mir, dass viele Stars den Weg machten und Bücher und Tagebücher drüber veröffentlich hätten, und dass es in Südkorea sehr viele Christen gäbe.

Wir wandern ein Stück und dann sehe ich rechts durch Büsche Hängematten und Liegestühle. Ein Holländer, der auf dem Camino sein Schicksal gefunden hat und einen Zoo von Landtieren hält, sowie Betten in Tipis und bemalten Betonröhren anbietet und Bier verkauft. Die Koreanerin ist restlos begeistert und will hier bleiben. Ein Esel trabt an, ich schaffe es, mein Bierglas vor ihm in Sicherheit zu bringen, dafür schnappt er sich meinen Strohhut und haut damit ab. Ich brülle ihm hinterher, schließlich lässt er den Hut fallen. Wir schauen den Gänsen beim Saufen zu und dem Schnattern der Enten. Mystische Musik plärrt über dem Platz und verleiht der Entenscheiße einen gewissen Glanz.

Romantische Übernachtungsmöglichkeiten
Romantische Übernachtungsmöglichkeiten

Wir reden über die Wiedervereinigung, und dass ich einst geglaubt hätte, dass die deutsch-deutsche Grenze die letzte sei, die je fallen würde. Sie soll also die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch Korea einst wieder vereinigt sein könnte. Nordkorea sei einst der reiche Landesteil gewesen, erklärt sie mir, und dass in Südkorea der harte gesellschaftliche Kampf jeder gegen jeden, die Leute auf den Camino treiben würde.

 

Der Österreicher aus Burgos fällt mir wieder ein. Ob es auch Leute gebe, die sich Karrierevorteile vom Camino versprächen? Vielleicht gibt es auch solche, meint sie höflich, ohne daran zu glauben. Ich merke, dass der Österreicher seine menschenfeindliche Sicht der Dinge den Pilgern untergeschoben hat. Die wenigsten prüfen das nach, weil sie mit den Koreanern nicht reden. Ich lerne: Der Weg ist ein Spiegel, der sich ganz schön zieht. Besonders jetzt in der Nachmittagssonne.
Ich trete aus dem Schatten von Schildern, ich trete aus dem Schatten von Zäunen, trete aus dem Schatten von Baumstämmen immer wieder auf die stumpfe,staubige Ameisenstraße.

Immer wenn die Achillessehne zwickt, trinke ich einen Schluck Wasser, so haben wir beide etwas davon. Ich hab genug Wasser, die Achillessehne die Aufmerksamkeit, die sie erheischt.

In Carrion de los Condes erkenne ich an einem heißen frühen Nachmittag einen wesentlichen Unterschied zwischen Spanien und Deutschland: In Deutschland liegen die Katzen in der Sonne, in Spanien im Schatten.

In der Kirche ist ein Gitarrenkonzert. Mit weiten Bewegungen, mit Gefühl, mit Dynamik konzertiert ein Spanier Lieder von der Renaissance bis in die Gegenwart, ein kleiner Kerl mit vorgeschobener Unterlippe, der lachende Mausaugen bekommt, wenn er aufsteht und sich für den Applaus bedankt. In der Messe sitzen neben mir Schwestern, ich lehne mich an ihre Stimmen an und singe lauthals in die Vierung.

Die Französin in Castrojeriz hat gesagt, sie wisse nicht, ob sie nächstes Jahr noch lebt. Aber letztlich weiß niemand, ob er im nächsten Jahr noch lebt. Die Zukunft ist keine Illusion lerne ich, sie ist eine Hypothese. ch treffe sie in der Messe wieder.

Wir leisten uns zufällig ein gutes Restaurant. Irgendwann reden wir, wie immer, über den Krieg. Ressentiments gegen Deutsche. Oh ja, sagt sie. Ich hatte keine bemerkt. Mit leisen Spinnenbeinen krabbelt die Flüchtlingsfrage unter dem Tisch hervor. Ich versuche Merkels absolut irrationales Verhalten historisch aus dem Zweiten Weltkrieg heraus zu erklären.

„Keiner spricht darüber, was man den Deutschen angetan hat, nach dem Krieg“, sagt die Frau.

Stimmt, denke ich, selbst in Deutschland dürfen die die Deutschen nicht gelitten haben. Stattdessen schimpfe ich:

„Die Europäer haben uns ja bei den Flüchtlingen im Regen stehen lassen“.

Sie sagt: „Nein, die Europäer fühlen sich nicht schuldig. Ihr seid die einzigen, die sich schuldig fühlen. Hört doch einfach auf, euch schuldig zu fühlen.“

5.6.

Carrion de los Condos – Terradillos de los Templarios

Staubiger, harter Camino. Der Reiseführer überschlägt sich darin, die Etappe als mörderisch zu bezeichnen, 18 Kilometer ohne Wasser, verkündet er. Was nicht ganz stimmt, denn die Spanier haben eine Bar aufgebaut, aber der Lärm in der Bar ist so entsetzlich, dass ich lieber in der Hitze weitertrotte. Der Staub setzt sich in die Socken, ein Storch gräbt das Brachland neben der Autobahn um. Montones, meditatives Gehen, wunderbar.

Große Traktoren mit Anhängern donnern an uns Pilgern vorbei und schütten uns mit weißem Staub zu, fast scheint es, als würden sie absichtlich schnell fahren, um uns einzunebeln. Muss an die Schnalle im Schwarzwald denken, wegen der ich lieber im Freien schlief, als ihre Unfreundlichkeit zu ertragen. Vielleicht ist der Hass der sesshaften Land-Bevölkerung gegen die fahrenden Leute naturgemäß, aber es ist nicht unsere Schuld, dass sie an ihrem Land kleben. Sie sind selbst schuld.

Die Sonne steigt, die Schatten werden kürzer die Schritte auch.
Spärliche Pappeln durchkämmen den Himmel nach Wolken aber da ist nichts.
Es gibt eine schöne überdachte Raststation, an der ich die Socken trocknen lasse.
Ich schreibe:
Spärliche Pappeln durchkämmen den Himmel nach Wolken
Doch da ist nichts

Raben und Schwalben am Himmel
Und Kieselsteine im Feld
Nicht lange darauf ragt ein Kirchturm aus der Weizenwüste, und ich gönne mir Bier mit Eis. Also erst das Eis, und dann die zwo Bier, die ganz angenehm im Mund verdunsten.

Es geht über die Dörfer. Weil das Pilgern ein Geschäft ist, haben diese Mistfinken von Wirten eine verwirrende Anzahl von gelben Pfeilen auf den Boden gemalt, damit man ja auch an ihrer Bar vorbeipilgert und dort eventuell einkehrt. In Terradillos de los Templarios ist die Herberge außerhalb. Eine neue Hütte mit einem großen blechernen Malteserkreuz. Es ist schön. Der Himmel wedelt mit Schäfchen-Wolken, der Kirchturm von Terradillos ist ein schwarzer Scherenschnitt. Goldpapier auf den Wiesen.

Ein Australier mit einer Gitarre hat eine Schar voll Mädchen um sich versammelt, und er spielt Gitarre und sie singen irgendetwas mit Kanguruhs. Ich gehe nach innen. Ein sehr gut aussehender Mexikaner mit Geld und Sohn ist wohl schuld daran, dass sich dieser Tross von Mädchen gebildet hat, an dem jetzt der Australier andockt.

Innen wartet der Schamane, der schon ordentlich getankt hat. Nichts lustiger als ein betrunkener Schamane, ständig bringt er seine Totemtiere durcheinander. Ich erzähle von Bussarden. „Nicht Du suchst dein Totemtier aus, sondern dein Totemtier sucht dich aus“, sagt er. Mit einem ganzen Zoo aus rotzbesoffenen Hirschen, Panthern, Raben und Adlern wanken wir in die Stockbetten.

 

6.6.
Terradillos de los Templarios – Calzadilla de los Hermanillas

Der Tross bricht auf. „Ich bin John Taylor“, scherzt John Taylor, als er mich sieht. Aber wo ist sein Salat? Vor uns eine Gewitterfront. Also da haben wir den Salat.

Ein Wirbelsturm im Atlantik schleudert diese Wolkenfetzen nach Spanien, man sieht noch den Schwung am Himmel.
Die Welt hat sich gedreht. Der Himmel ist zerfurcht und majestätisch, bildet Klüfte, Berge und wolkige Landschaften, das Land ist still und bescheiden. Die Weizenfelder sind abgemäht, braune gleichförmige Erde, manchmal ein Hügelchen, wieder Weinbau. Von den wenigen Anhöhen, die der Weg bietet, sehe ich unendlich weit ausgeworfenes Land, Berge, die es begrenzen könnten, sind nur noch erahnbar.
Meine Camino-Familie ist zerrissen. Lutz und das deutsche Mädchen sind ganz hinten, der deutsche Gottsucher und Fritz The Cat ist weit vorne, und ich in der Mitte allein.

So haben ich es gewollt. Der Himmel über mir, Erde unter mir, Friede in mir. Die Mohnblumen schwimmen nicht mehr über den Feldern, sondern sinken langsam ein, kleine Blümchen leuchten noch.

Die Wolken über mir, der Weg unter mir
Die Wolken über mir, der Weg unter mir

Nach Sahagun kann man eine alte Römerstraße gehen, und während der Tross an der Autostraße weiter Richtung Leon walzt, gehe ich mit den Römern. Ich treffe den Australier wieder, und jetzt wird er sympathisch, er spielt unablässig während des Gehens die Gitarre, wie ein Spielmann, wie ein fahrender Geselle. Er hat sich ein blaues Handtuch über den Kopf geworfen und einen Strohhut drauf, um es zu befestigen. Ich bin durch Blasen geschwächt und langsamer als er. Kies unter den Füßen, vorbei an Heide und Horizont, kleine Büsche. Manchmal der Stumpf einer Säule. Mitten im Acker eine blätternde Ruine eines Schwimmingpools, vermutlich eine umgebaute Bewässungsanlage. Herrliche Einsamkeit auf dem Camino. Weiter, immer langsamer, wie eine ablaufende Uhr erreiche ich Calzadilla de los Hermanillos.

Die Gemeindeherberge kann man gegen eine Spende beziehen. Wie in vielen Herbergen tut ein Freiwilliger seinen Dienst. Er freut sich, dass ich mit ihm spanisch spreche. Als er hört, wie lange ich schon unterwegs bin, nimmt er mich in den Arm. Ich erhalte die letzte schimmlige Matratze, verpflege mich in einem kleinen Laden, in dem ein kleiner Mann arbeitet, der sorgfältig, die Ware die man verlangt, aufbaut und arrangiert. Beim Wein fragt er noch, ob er ihn öffnen solle.

Der Australier organisiert für die Mädelsgruppe ein gemeinsames Abendessen und kauft groß ein, jetzt singen sie wieder, also gehe ich nach innen. Die Mädchengruppe besteht aus Christinnen, die 200 Gebetswünsche von Minnesota nach Santiago tragen. Ein Deutscher trägt das Schicksal seiner Frau mit sich, die an einer schweren Krankheit stirbt, er kämpft mit den Tränen. Er diskutiert mit Eirin, 23, ob es einen Gott gibt. Ich versuche ihm zu erklären, dass jeder von uns, sofern er nicht unters Auto kommt, oder eine Kugel zwischen die Rippen kriegt, einmal eine tödlichen Krankheit haben wird, die ihn umbringen. Und dass das mit der Frage nach einem Gott relativ wenig zu tun hat. Aber ich glaube, es geht dem Deutschen auch mehr darum, seine Geschichte loszuwerden, und ich bin nunmal ein Geschichtensammler.

Der Deutsche trägt eine Armbanduhr ohne Uhrwerk. Man kann direkt vom Uhrglas auf seine haarige Haut sehen. Zwei Weinflaschen weiter klauen wir dem Australier die Gitarre und spielen. Die Mädelsgruppe verzieht sich nach draußen, bis Eirin reinkommt und uns mit glockenheller Stimme einen Abendsegen singt.

7.6.

Calzadilla de los Hermanillas – Acker.

Weiter über die Römerstraße in Richtung Mansilias de las Mulas. Es ist fürchlich heiß, ich trabe dem Australier und seinem Kumpel hinterher, höre seine Lieder und tanze mit den Stöcken, Orchideen lassen mich manchmal halten und ich schlafe kurz neben einem verfallenen Schuppen, hatte wenig Schlaf gekriegt, die Nacht.

Eine Koreanerin trabt einsam über den Weg. Sie ist gegen das Bett geknallt in der Nacht und hat eine üble Platzwunde direkt an der Knochenhaut des Schienbeins. Muss höllisch wehtun. Ich schmiere sie mit Voltaren ein und erkläre ihr, sie müsse morgen rasten. Sie kämpft sich tapfer weiter. „Warum bis du auf dem Weg?“, frage ich, „du bist neugierig“, sagt sie.

Wir erreichen Calcada del Coto, ausgetrocknet wie Schwämme. Der Schamane kommt vorbei, bietet seine Hilfe an. Während er seine Hände über die Wunde hält, beginnt die Koreaniern zu heulen. Ich halte ihr die Hand. Ich begreife, im wahrsten Sinne, dass es nicht ihre Wunde ist, sondern die Einsamkeit, die Schmerzen bereiteten und das, was sie auf den Weg gebracht hat. Es hat sich einfach lange niemand mehr um sie gekümmert, und sie hat verlernt, sich um sich selber zu kümmern und ist deswegen gegen das Bett geknallt.
Sie beruhigt sich, ihr Bein wird besser, sie bedankt sich und schenkt allen Anwesenden koreanische Anhänger, ich kriege einen grünen, den ich an den Rucksack stecke.

Sie geht in ihre Herberge, ein Pilger kommt vorbei, der eine rote Clownsnase trägt, eine Baseballkappe, an der Blumen stecken, eine gelbe Schärpe, blaues T-Shirt. Wir gehen rein, weil es mir selbst draußen im Schatten zu heiß wird. Die Kneipe ist über und über mit Graffiti bedeckt, alte Fahnen, uralte Spontisprüche auf Tüchern und Zeitungsausschnitte an den Wändne. Das dritte Bier. Die Oliven, die der Wirt reicht, sind so groß wie Taubeneier. „Mas grande del mundo“, sagt er Wirt. Nochn Bier? Ich versuche mich dergestalt verständlich zu machen, dass ich diese Frage mit der Gegenfrage beantworten würde, ob der Papst katholisch sei, scheitere zwar an der Übersetzung, nicht aber am Bier.

Der lustige Pilger mit der Clownsnase rollt an.

Ein Bier später weiß ich, dass er Bretone ist und als Anthropologe in einem Museum in Frankreich arbeitet. Er geht immer mit einer Clownsnase, weil er wissen will, wie die Leute auf ihn reagieren, und er freut sich, wenn sie lächeln. Denn am liebsten wäre er en Clown geworden. Ich kann ihm noch nicht sagen, dass er zwar ein ernster Mensch sei, für einen echten Clown aber zu katastrophal.

Während der nächsten Biere reden wir über Philosophie und ich erkläre ihm, dass man als Steinzeitforscher sowieso Platoniker sein müsse wegen der Höhlen. Aus zwei Zahnstochern und zwei Brotkanten bastelt der Bretone tanzende Schuhe und lässt sie über die Bar steppen.

Ich bestelle das ungefähr fünfte Bier und versuche, etwas Erklärendes zu formulieren, ich sei Deutscher und wir Deutschen tränken halt gern viel Bier.

„Schon okay“, meint der Bretone. „Das ist eure Kultur.“ Ich lerne: Mit Anthropologen lässt es sich am einfachsten saufen.
Der Schnaps heißt Hijo de Puta, was so viel wie „männliche Nachkommen verwerflicher Frauen“ bedeutet. Schmeckt auch so. Hat 40 Prozent. Schemenhaft erkenne ich, dass der Wirt auf einem Barhocker tanzt, der Bretone heißt Neo. Bin aber noch nicht in die Matrix abgebogen, der Name kommt scheints von Neolithikum.
Wir diskutieren, warum eine Clownsnase immer rot sein muss und nicht weiß oder blau sein darf.
Der Wirt bietet uns Gras an, raucht aber lieber selber. Der Bretone spielt ein Lied von Joan Baez auf einer hölzernen Nasenflöte, die er aus der Hosentasche zieht. Ich versuche ihm, die kurzen Erfolge des Tübinger Nasenflöten-Orchesters zu vermitteln.

Nach dem sechsten Bier malt sich der Bretone mit Edding die Fingernägels an. Redet irgendetwas von der anthropologisch belegten er Sehnsucht der Menschen, sich zu markieren. Schreibt dann irgendwelche Sprüche auf die Tapete.

Zwischen den hinteren Bieren gelingt uns ein absolut kompliziertes deutsch-französisches Wortspiel: Er erzählt von einer Fernsehserie namens Sons of Anarchie. Leute über der Moral, Sous Moral, Sous ethique, und am Ende der Aufzählung hat er dann Sous-sisse und das heißt zu deutsch Wurst-Leute. Ich erkläre ihm, das würde im Deutschen genau passen, weil man in unserer Sprache sagen kann, „das ist mir Wurst“ und damit meint, es ist egal, so wie den Anarchisten eben alles Wurst ist. Etwas Bier später hat der Wirt entdeckt, dass man aus einer Zuckerzange ein prima Schlagzeug basteln kann. Er heißt Sinin, und hat nur noch deswegen ein paar Zähne im Mund, damit er die Karieslöcher irgendwo unterbringen kann. Habe einen Italiener im Arm, der aus Pforzheim stammt und schwäbisch schwätzt.

Gegen später muss ich wohl irgendeine Abzweigung verpasst habe. Ich finde ein Feld, rolle den Schlafsack aus und übernachte da. Man muss hin und wieder im Freien schlafen, um nicht zu vergessen, dass wir Kinder des Kosmos sind. Jetzt sind die Grashalme mein Zuhause genauso wie die Sterne. Wie ein Messer durchschneidet eine Sternschnuppe den Himmel und fragt nach meinen Wünschen. Ich habe keine.

 

8.6

Freies Feld – Leon

Sonne flutet den Acker
Sonne flutet den Acker

Der Schlafsack ist feucht vom Tau, ich habe noch ein paar Kekse und frühstücke mühsam. Die Sonne flutet den Acker, ich zupfe Gras aus den Socken. Es war kalt und klamm in den Morgenstunden. Ein paar Bilder, vielleicht abgedroschen, aber ich könnte durchaus ein Gedicht daraus machen. Nur wenn es Nacht ist, kann man Sterne sehen. Den Schatten, den man immer bei sich hat.
Es geht immer der Straße lang nach Leon. Ein Kiesweg, wenig los dort, manchmal muss ich auf die Nationalstraße. Dann stiere ich die Lastwagenfahrer an, damit sie kurz aufwachen und mich nicht über den Haufen fahren. Die 34 Grad sind nicht so viel, nein, aber für mich ist es genug. Der Weg über die Berge nach Leon ist staubig, ich quetsche mich den Zäunen, Mauern und Bäumen entlang, um das bisschen Schatten auszunutzen. Der Staub ist wie Schleifpapier unter den Augenliedern. Eine Spanierin kotzt einen Rastplatz voll. Entweder ist sie schwanger, krank, oder völlig erschöpft. Doch die wenig aufgeregte Art, in der sie kotzt, lässt lange Erfahrung und Schlimmes vermuten. Der Australier ist bei ihr. Wie alle echten Künstler hat er einen guten Blick für verwirrte Mädchen, die er hörig machen kann, ich beginne wieder, ihm zu misstrauen.

Ein Tag wie dieser, an dem meine Pisse so leuchtend gelb ist, dass ich die Schüssel treffe, obwohl der Bewegunsmelder im Klo erlischt. Mann, bin ich verdurstet. Die Barmaid stellt mir Bocadilos, Brötchen, hin und ich gucke Simpsons auf spanisch, die gelbe Hautfarbe der Simsons-Familie erinnert mich an etwas. Mann, war ich verdurstet.

Ein Pilger im Zentrum von Leon grüßt nicht mit der Hand, sondern mit der nackten Fußsohle. Es ist der Bretone, der in einer Bar wartet, bis seine Wäsche fertig ist. Ich setze mich zu ihm auf ein Bierchen, man muss ja nicht gleich so übertreiben wie gestern.

Als ich gegen 1 Uhr aufwache, liege ich in einem Einzelzimmer in einem Hotel. Ich denke, ich mache in Leon einen Ruhetag.
9.6.
Leon

Ich sitze in diesem Hotelzimmer und schreibe zwölf Stunden. So sollten die Tage vergehen.

10.6
Leon

Ich treffe einen Bretonen mit einer Nasenflöte, nichts wie weg hier.

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