An der Neckarküste. . . am hochdeutschen Strand. . .

Die Seebären des Shanty-Chors der Marinekameradschaft. Foto: Horst Rudel

Esslingen Der Shanty-Chor der Marinekameradschaft Tsingtau hält das Andenken an die ehemalige deutsche Kolonie Tsingtau hoch. Auch wenn er nichts mit ihr zu tun – streng genommen.

 

„Was, Junge, Du biss erkältet? Nu, dann trink ma ‘nen Grog.“, sagt mein glatzköpfiger Nebensitzer. Kann man machen, aber ich bitte lieber um Mineralwasser. Langsam trudelt die Marinekameradschaft Tsingtau in den Tsingtau-Keller in Esslingen ein, ein mittelalterliches Sandsteingewölbe im mittelalterlichen Stadtkern, der so gar nichts mit der Seefahrt zu tun hat, außer dass der Esslinger Hafenmarkt in der Nähe ist. Aber da ankerten keine Schiffe, wie vielfach geglaubt wird, sondern da hatten die Töpfer ihre Stände, die Kochhafen feilboten, wie im Schwäbischen die Kochtöpfe heißen.

Unter den Steuerrädern, den Flaggen, den mächtige Schiffsmodellen, den Wimpeln und dem Glaskasten mit den Seemannsknoten lassen sich die alten Männer nieder.

Es gibt hier keinen einzigen Nachkommen mehr von den ehemaligen Kolonialtruppen der einzigen Kolonie Deutschlands in Südchina, die damals Tsingtau oder Tsing-Tao hieß und heute Qing-Dao.  Es gibt hier unter den 60 passiven Mitgliedern und den 30 Sängern des Shanty-Chors überhaupt nur noch etwa fünf Leute, die jemals zu See gefahren sind.  Rätselhaft, was den sympathischen Haufen zusammenhält, der sich an diesem Dienstag zur Shanty-Chorprobe trifft. Ich muss es herausfinden.  „Homa ‘ne Platte“, schallt es quer durch den Raum. Die Kommandostruktur der Marinekameradschaft funktioniert trotz des Durchschnittsalters von 65 noch vorbildlich.

„Was, ‘ne Flasche?“  Viele der betagten Shanty-Sänger hören nicht mehr so gut.  „Nein, eine CD von unserem Shanty-Chor.“

Deutschland hatte einst das drittgrößte Kolonialreich der Welt, geschützt von tapferen Kolonialtruppen. Unvergessen ist immer noch Paul von Lettow-Vorbeck, der von 1914 an in Deutsch-Ostafrika  einen hartnäckigen Guerilla-Krieg gegen die Engländer führte und erst Ende 1918 aufgab, nachdem er mitten im Buschland zufällig erfahren hatte, dass der Krieg in Europa schon zuende war.

Die Soldaten von Tsingtau waren aus demselben Holz geschnitzt. Mit 6000 Mann verteidigten sie die deutsche Kolonie gegen 58 000 britische  und verbündete japanische Soldaten drei Monate lang vom 2. September bis zum 7. November 1914, bevor sie den Gang in die Kriegsgefangenschaft antraten.  Manche mussten dort blieben bis ins Jahr 1920. Aber warum zum einbeinigen Klabautermann  haben sich die Nachkommen der Kolonialtruppen ausgerechnet in  Esslingen getroffen und nicht wenigstens in der Landeshauptstadt? „Stuttgart, wo liegt’n  das?“ scherzen die alten Männer   „Dass  is da, wo se nächstens die Autos verbieten.“, „Tscha, dann kannst Du nur noch mit dem Hubschrauber reinfliegen“.

Ein Stadtplan von Tsingtao aus dem Jahr 1906.

Die Antwort ist wohl, dass etliche Seeleute und Kolonialtruppen aus Süddeutschland stammten, und  sich nach dem Ende der japanischen Kriegsgefangenschaft wieder in Württemberg niederließen. Bekannt ist beispielsweise Heinrich Reiser,  der bis 1911 in Tsingtau Dienst tat und aus Esslingen stammte.  Seit den 50er Jahren war die Kameradschaft eher ein allgemeiner Verbund von Seeleuten, heute treffen sich vor allem Ruheständer mit Liebe zur See und zur Musik.

Im Kampf um Tsingtau stellten die deutschen Truppen Geschützattrappen auf.

„Aber die besten Kapitäne kamen immer aus dem Süden“, doziert Dieter Benze, der Vorsitzende der Marinekameradschaft.  „Graf Zeppelin?“ werfe ich ein. Schweigen ist die Antwort.

Die deutschen Kriegsschiffe laufen in Tsingtau ein, um den Hafen in Besitz zu nehmen.

Karl-Heinz Zonewicz hat seine erste Seefahrt mit 13 Jahre unternommen. Mit dem ehemaligen Schnellbootbegleitschiff „Tanga“ floh er mit seinen Eltern aus Danzig vor den Russen. Während  der Fahrt bekam das Schiff einen Bombentreffer ins Heck und konnte nicht mehr steuern. Daraufhin mobilisierte die Crew die Hebekräne an Bord, hängte sie an das Ruder und manövrierte so in den nächsten sicheren Hafen. Später in Hamburg wollte Zonewicz  Matrose werden, nur fuhr 1948 kein einziges deutsches Schiff mehr zu See.  Dann doch lieber Förster, aber auch das wurde nichts.  So kamen die Männer von der Waterkant alle irgendwie in den Süden, wo es Arbeit gab, ließen sich nieder, gründeten ihre Familien und stießen meist im Rentenalter zur Marinekameradschaft, wo sie im Shanty-Chor  alte Seemannslieder schmettern und Bierchen trinken.

Der Vorstand Dieter Benze ist zehn Jahre zur See gefahren, weil er nach einer Lehre bei Opel in Rüsselsheim die Nase voll hatte von der Fabrikarbeit. Seine Mutter verbot ihm den Weg auf die Hamburger Seefahrtsschule, aber er wartete einfach bis er 21 war, dann war er volljährig.  Er arbeitete sich zehn Jahre hoch vom Matrosen bis zum Kapitän zur See –  und hing dann sein Patent an den Kajüten-Nagel.  In den Betrieben wurden die  Sozialleistungen immer mehr verbessert, aber nie in der Seefahrt. „Ich wusste, wenn die Seefahrt da nicht nachzog, würde kein deutscher junger Mann mehr ein Schiff betreten.“ Also trat er in die ÖTV ein, ging auf die Akademie dort in Stuttgart und kämpfte für ein besseres Arbeitsleben auf See.

Und heute? Er winkt mit einer großen, die ganze christliche Seefahrt umfassenden Bewegung ab. „Is alles den Bach runter. Tscha, gibt ja nur noch Philippinos an Bord.“

Der Keller füllt sich. „Seid ihr Matrosen?“, begrüße ich die nächsten Neuankömmlinge? „Noi“, sagen sie, sie sind Esslinger aus Mettingen.  Warum auch nicht, schließlich gibt es in Mettingen eine Straße namens „alte Schiffahrt“. Ein gewichtiger Mann im karierten Hemd und langem graumelierten Haar stellt mir das Mineralwasser hin, Ulrich heißt er. Noch ein Ulrich kommt, den kenn ich aus  meinem Volkshochschul-Gitarrenkurs in Esslingen. Irgendwie haben die es hier mit den Ulrichs. Sollte mich wohl besser aus dem Staub machen.

Zu spät. Sie singen. „. . . bei Windstärke vier“. „Da musste mitwackeln!“,  sagt mein glatzköpfiger Nebensitzer,  „und beim Vers ,bei Windstärke‘ sieben, da musste umfallen.“ Wir liegen quer auf der Bank übereinander, richten uns auf und singen wieder: „bei  Windstärke vier, da tranken wir Kööm und Bier“. Irgendwie geht der Rhythmus vom Oberkörper in die Beine.

Die Keimzelle eines Bier-Imperiums. Aus  Germania Brauerei Tsingtau wurde Tsingtao Beer.

Einst 1986 war ich selbst in Tsingtau, als junger Kerl ­- die Abenteuerlust hatte mich vor einem halben Leben hingetrieben. Wenn man von Seeseite nach Tsingtau kommt, erhebt sich die alte deutsche Siedlung auf einem kleinen Hügel, der von einer evangelischen Kirche gekrönt wird. Die Straße dahin ist von prächtigen Gründerzeit-Häusern gesäumt. Von der Kolonialzeit Deutschlands ist vor allem die Brauerei geblieben, die  heute zu den sechs größten Brauereien der Welt zählt und halb China mit Bier versorgt. Natürlich gibt es Bier aus Tsingtau auch in den großen Getränkehandlungen in Esslingen zu kaufen, aber die Seebären bleiben beim Hofbräu.

Im Jahr 2014, zum 100-jährigen Jubiläum der deutschen Kolonialzeit ist der ganze Chor nach Tsingtau geflogen. Die Chinesen haben die deutschen Sänger herzlich empfangen,  und die Kameradschaft hat ihre Shantys geschmettert.  An der Stelle, wo die kaiserliche Garnison einst ihre Toten begrub, sangen sie „Ich hatt‘ ein Kameraden“, von Ludwig Uhland und Friedrich Silcher. Allen lief es kalt den Rücken runter.

Anschließend haben sie auf einem Hügel einen Denkstein enthüllt, in dem sich die beiden Völker zu ewiger Freundschaft verpflichten. Wenigstens in Tsingtau hat man aus der gemeinsamen Geschichte gelernt.

Wenn ich schon mal da bin, kann ich ja auch mitsingen. Der Chorleiter reckt sein Akkordeon, der Gitarrist blickt auf, der Trommler geht in Stellung, die zweite Akkordeonistin wartet – und dann stopp „Haben wir ‘ne Pfeife dabei?“, fragt der Chorleiter. „sind doch alles Pfeifen“, kommt die trockene Antwort aus einem Winkel im Sandsteinkeller. Ein vierschrötiger Bär mit Backenbart steht auf und erklärt. „Das nächste  Lied handelt vom Seemannsgarn. Das ist der Garn, mit dem der Seemann seine Strümpfe stopft.“ Dann zückt er seine Bootsmannspfeife, und es geht los:

Die Männer singen mit einer Lust in den Keller, dass der Sand von den Sandsteinen bröckelt, die Stimmen umschlingen sich, ein gewaltiger tiefer Männergesang, der voll Lebenslust die Zeilen schmettert „Und dann auf See, und kein Schiff, und den Seesack im Nacken, und den Frost an den Hacken. . .“

Okay, ich bin nie zur See gefahren, aber ich singe gerne und heiße Ulrich. Also die beste Voraussetzung, beim Shanty-Chor der Marinekameradschaft Tsingtau in Esslingen mitzumachen, wenn ich darf. Jetzt nur noch schnell 65 werden.

Ulrich Stolte

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