Wie der Schatz der Azteken nach Plochingen kam

Vor fünfzig Jahren wurde der erste Karl-May-Film gedreht. Bei der großen Filmgala in Berlin ist auch Ulrich Stolte dabei. Er erklärt in einem spannenden Kurzvortrag, warum das schöne Städchen Plochingen in dem Karl May Film: Der Schatz der Azteken vorkommt. Genauer gesagt, er versucht es zu erklären.
Zum Programm der Filmgala

Lex Barker spielt den Dr. Sternau, der im mexikanischen Freiheitskampf den Schatz der Azteken sucht

»Darwin hatte recht!«

Als Astronaut hat er die Erde dreimal von oben gesehen.
Ulf Merbold über Siliziumkristalle, Schiller und seinen Job als Gärtner im Orbit.
(aus der Stuttgarter Zeitung)

Er hat die Wissenschaft beschleunigt, die Entwicklung der Siliziumchips und vor allem sich selbst. Dreimal raste er ins Weltall. Wir trafen Ulf Merbold beim großen Fliegerwochenende auf der Hahnweide bei Kirchheim, da war er gerade in einem Oldtimer-Flugboot um die halbe Welt gezuckelt. »Journalisten«, klagte der Siebzigjährige, »sind gern da, wenn es qualmt oder wenn etwas explodiert, aber für eine wissenschaftliche Leistung über Jahre hinweg interessieren sie sich nicht.« Das konnten wir nicht auf uns sitzen lassen.

Herr Merbold, was haben Sie in der Spacelab-Mission 1983 herausgefunden?
Daß Darwin recht hatte. Dafür habe ich mich da oben im Spacelab als Gärtner betätigt und mußte Sonnenblumen pflanzen. Wenn eine Pflanze auskeimt, dann beschreibt der Trieb beim Wachsen eine Ellipse. Da gab es zwei Theorien, die eine ging zurück auf Darwin, der sagte, das ist einfach so. Die andere besagte, die Pflanze würde sich auf die Schwerkraft hin immer wieder neu ausrichten und deswegen rotieren. Das ist über hundert Jahre strittig gewesen. Wir haben Sonnenblumen im Weltall einmal unter künstlicher Schwerkraft wachsen lassen und einmal ohne. Es kam raus, Darwins Theorie stimmte.

Ist durch Ihre Arbeit ein Zweig der Technik vorangekommen?
Die Herstellung von schnellen Siliziumchips. Damals konnte man noch keine Silizium-Kristalle züchten, in denen Phosphor und Silizium gleichmäßig verteilt waren. Das ist ein Qualitätsmangel. Die Frage war: Warum? Im Weltall hat sich der Grund herausgestellt. Schuld war die Oberflächenspannung in den geschmolzenen Substanzen, die an einer kalten Stelle höher ist als an der warmen. Das führte zu einer Strömung und zu einer ungleichen Verteilung.

Da müßte Ihr Team ja nobelpreiswürdig sein.
Das Experiment ist ja unsere Aufgabe gewesen. Wir fanden auch heraus, dass der in Wien geborene Ungar Robert Bárány den Medizinnobelpreis des Jahres 1914 für eine Theorie bekommen hat, die nicht zu halten ist. Báránys Erklärung für eine Augenbewegung, den so genannten kalorischen Nystagmus, die dadurch stimuliert wird, dass ich einem Menschen das eine Ohr kühle und das andere aufwärme, war falsch. Sie ist nicht schwerkraftabhängig.

Im Spacelab wurden in zehn Tagen 72 Experimente gemacht.
Bei unserem Flug haben wir im Schichtbetrieb rund um die Uhr gearbeitet. Einer mußte das Shuttle fliegen, zwei waren mit den Experimenten beschäftigt. Nach zwölf Stunden wurde eine Schicht abgelöst. Wir haben wichtige Erkenntnisse in der Medizin, der Biologie, der Physik und der Metallurgie gewonnen. Nur ganz wenige Experimente sind schiefgelaufen.

Da braucht man Nerven.
Wenn irgendwas nicht funktioniert, heißt es immer: »Back to timeline – zurück zum Zeitplan.« Wenn ein Experiment auf eineinhalb Stunden angesetzt ist und etwas nicht geht, dann müssen Sie diszipliniert abbrechen. Weil das Risiko besteht, für die gesamte Restmission einen Dominoeffekt zu hinterlassen. Der Computerspeicher, der für das nächste Experiment gebraucht wird, der muß frei sein. Und die Software vom vorigen Experiment muß weg sein.

Kann man nicht doch noch etwas machen?
Man versucht dann eine Neuplanung. Erst analysiert man das Problem, gibt es ein Leck, gibt es einen Kurzschluß, gibt es einen Softwareabsturz? Es kann ja hunderttausend Gründe haben. Dann versucht man eben in der noch verbleibenden Zeit, das noch mal unterzubringen. Oft genug ist es dann so, daß man den Astronauten fragt: »Könntest du von deiner Ruhezeit etwas abknapsen?« Das wichtigste Ziel ist, das Gesamtergebnis zu optimieren. Es kann nicht sein, daß man wegen eines schiefgelaufenen Experimentes den ganzen Rest gefährdet.

Ich stelle mir gerade einen reinen Theoretiker vor. Dem hätte ich nicht zugetraut, einen Kurzschluß aus einem Trafo rauszukriegen. Welche Voraussetzungen braucht man als Wissenschaftsastronaut?
Ich komme ja aus der Experimentalphysik und habe zehn Jahre lang am Stuttgarter Max-Planck-Institut bei tiefen Temperaturen Metalle erforscht. Wenn beispielsweise ein Kurschluß in einem Netzgerät ist, dann läuft das Experiment erst mal nicht. Dann lasse ich die anderen Experimente mit einem anderen Netzgerät laufen, und dann baue ich das Netzgerät um und versuche, soviel wie möglich noch zu machen. Ich war der Klempner, der die Strippen gezogen hat.

Hatten Sie Angst vor ihrem ersten Flug?
Ich bin über 76 Puls nie herausgekommen.

Respekt.
Das, denke ich, ist auch eine Qualität, die ein Astronaut braucht: daß er unter viel Streß in der Lage ist, zielgerichtet zu agieren. Der erste Flug, der ist emotional immer der schwierigste. Für mich war von Vorteil, daß unser Kommandant der große John Young war, der zweimal zum Mond geschickt wurde und den allerersten Shuttle-Flug gemacht hatte. Die schwierigste Phase in allen drei Flügen ist die Warterei auf den Start gewesen. Man liegt da rum, kann sich nicht mehr bewegen, man weiß, daß andere, die sieben Kilometer weit weg sitzen, diesen Countdown vorantreiben. Man kann sich ja fragen, warum die so weit weg sind.

Hat der Flug Ihre eigene Wissenschaftskarriere befördert?
In allen Disziplinen habe ich unheimlich viel dazugelernt. Wir haben allerdings die Auflage gehabt, nicht zu publizieren.

Das enttäuscht einen doch!
Es ist aber auch nachvollziehbar. Sonst könnte ein Wissenschaftler auf der Erde sagen, wenn du mein Experiment besonders gut machst, dann darfst du mitpublizieren. Dann mögen die anderen denken, der Astronaut Merbold kümmert sich um ein Experiment besonders intensiv zu Lasten eines anderen. Ich habe dann aber noch eine kleine Nische gefunden und ein paar Veröffentlichungen geschrieben: über die Störungen der Schwerelosigkeit durch unsere Flugmanöver. Das war für viele Experimente eine willkommene Zusatzinformation.

Was tut ein Astronaut, wenn er in Rente ist?
Ich habe nicht aufgepaßt und viele Ehrenämter übernommen. Ich will noch ein paar Semester Germanistik studieren. Das vertiefte Wissen über die deutsche Sprache und die Literatur ist das, was mich noch interessiert. Ich habe jetzt auch relativ viel Klavier gespielt. Das ist für einen Wissenschaftler vielleicht auch eine Form, eine Balance zu kriegen zwischen dem Rationalen und dem mehr Emotional-Kreativen.

Einstein war ein begeisterter Geiger.
Es gibt noch viele andere. Heisenberg beispielsweise war ein großer Pianist.

Was interessiert Sie an der Germanistik?
Ein Dichter, der mich als Jugendlichen in der DDR-Zeit schon getröstet hat, war Schiller, weil beim ihm die Gerechtigkeit obsiegt. Was hat er doch für Spuren hinterlassen, und er ist nur 46 Jahre geworden!

Es gibt Menschen, die erlöschen einfach, weil sie ein ganzes Leben lang gebrannt haben.
Denken Sie an die vielen Wendungen in der deutschen Sprache, die auf ihn zurückgehen: Von der Stirne heiß / rinnen muß der Schweiß. Oder wenn man sich Maria Stuart anschaut – was ist das für eine Psychologie!

In der Schule fand ich es sterbenslangweilig.
Sollten Sie mal wieder lesen.

Hat sich durch diese eine Chance, unter 2000 Bewerbern für den ersten europäischen Raumflug ausgewählt zu werden, ihr ganzes Leben verändert?
Ja – uff – ja, das kann man schon sagen. Und wenn es mich nicht fasziniert hätte, hätte ich keine weiteren Flüge unternommen. Weil ich eben die singuläre Chance hatte, mich an vielen Stellen der Wissenschaft durch die Grenzlinie durchzuarbeiten, die zwischen dem Bekannten und dem Nichtbekannten liegt. Ich hatte fünf Angebote, an eine Hochschule zu gehen, doch ich dachte, meine Erfahrung wäre in der Raumfahrt am wirksamsten.

Sie hätten dann auch keine Fragen beantworten könnten, die die Menschheit weiterbringen.
Ich denke mal: Was ich über mich sagen kann, ist, neugierig zu sein. Diese Welt, die ist so farbig und interessant, daß die Stunden eines Tages nicht ausreichen, allen Dingen nachzugehen, die mich interessieren. Diese Neugierde für die Wissenschaft hat mich als junger Mensch dazu gebracht, Thüringen zurückzulassen, weil ich unbedingt Physik studieren wollte. Das war die schwierigste Entscheidung, die ich in meinem Leben zu treffen hatte, da war ich 19. Das zweite aber, das mich nicht kaltläßt und woran ich immer noch eine kindliche Freude habe, ist Fliegen!

Können Sie von sich sagen, ein kleiner Schritt für mich und ein großer Schritt für die Menschheit?
Nein, diese Lorbeeren die stehen mir nicht zu, die gehören denjenigen, die sich die Experimente ausgedacht und die Organisatoren der ESA überredet haben, sie im Spacelab durchzuführen.

Unterwegs im Auftrag des Herrn

Auf Gottes Pfad

Wallfahrt: Fast 50 Kilometer misst die Etappe auf dem Jakobsweg von Esslingen nach Tübingen. Unser Reporter Ulrich Stolte hat die Strecke an einem Tag bewältigt. [übernommen aus der Stuttgarter Zeitung]

Leben ist gehen, sagt man, aber wenn dem so wäre, dann würden die Bäume nicht leben. Sie schauen auf mich herunter: einen Pilger mit Kniebundhose, Hut, schwarzer Umhängtasche, Wasserflasche, sechs alten Wecken und zwei Wurstdosen für je 99 Cent vom Bahnhofskiosk.
49 Kilometer geht der Jakobsweg von Esslingen nach Tübingen. Eine Tagesreise, wie sie normal wäre auf dem Pilgerpfad quer durch Europa nach Santiago de Compostela in Nordspanien. Dorthin sind seit dem 14. Jahrhundert Christen unterwegs, um am Grab des Heiligen Jakobus auf die Vergebung der Sünden zu hoffen.
Eine Reise beginnt mit einem Schritt, sagt man, und einen Schritt von der B 10 entfernt beginnt der Dschungel, das Unbekannte. Der Jakobsweg führt in Esslingen am Nordufer des Neckars über verwitterte Treppenstufen, umgestürzte Bäume: ein grüner Teppich aus Frühjahrskräutern, die Vögel zwitschern und von unten donnert der Verkehr auf der vierspurigen Straße.
Weist den Weg: Die Jakobsmuschel, hier in Rüdesheim. (Bild: Wikipedia)

Der Weg ist das Ziel, sagt man, aber das ist falsch: Der Weg ist der Weg, und das Ziel ist Berkheim, ein Esslinger Stadtteil. Der Wind treibt mich durch Obstgärten, die Menschen grüßen, ahnen wohl, dass ich im Namen des Herrn unterwegs bin wie die Blues Brothers, nur ohne Brüder, aber dafür mit dem Blues. Dunkelblaue Regenwolken ziehen auf. »Schreibe nicht über das Wetter«, lautet eine journalistische Grundregel, was aber soll man machen, wenn einen der Regen unter das Portal der katholischen Kirche in Berkheim treibt? Es stürmt so sehr, dass ich die Kapuze des Regenumhangs mit der Hand festhalten muss, als ich nach Denkendorf wallfahre.
Im Mittleren Neckartal ziehen die Gewitter meist von Westen auf, was die östlich der Landeshauptstadt wohnende Bürgerschaft stets zu politischen Kommentaren ermuntert hat. »Emmer kommt’s dick von Stuttgart«, grollten die alten Leute und fluchten dann: »Heida Stuargart!«
Der Regen bringt Kälte, die Katzen jagen nicht mehr in den Vorgärten, sondern sitzen unter den Gartenhäuschen. In Denkendorf wähle ich mir einen Carport zum Unterstand, warte, bis keine Regenkrönchen mehr in den Pfützen zu sehen sind, und trotte steil bergab in die Denkendorfer Ortsmitte hinein. In den Bushaltestellen drängen sich Schüler, vergraben sich in Schirme und Kapuzen oder trotzen wie Freibeuter mit nassem Kopf der Kälte. Der Schlecker hat gerade aufgemacht. Ob man dem lieben Gott für einen Schlecker danken kann? Kaufe einen hübschen blauen Regenschirm und Süßigkeiten: Haribo macht Pilger froh.
Die romanische Denkendorfer Klosterkirche steht auf einem kleinen Hügel. Die Mauern der Basilika schneiden den allgegenwärtigen Straßenlärm ab, endlich. Die Kirche vertreibt sich die Zeit damit, das Gebälk knacken zu lassen. Ob der Verzehr von Süßspeisen hier erlaubt ist? Ich lasse die Pilgertasche zu. Schon merke ich, wie der Weg den Menschen bessert: Mit dem Regenschirm vom Schlecker komme ich nicht mehr in Versuchung, einen Schirm aus der Kirchengarderobe zu stehlen.
In der Krypta, so erklärt der Reiseführer, stehe eine Nachbildung des Heiligen Grabes von Jerusalem. Dort sieht es aus wie im Stuhllager einer Brauerei. Der Mann, der erfolgreich verbreitet hat, diese finstere Sickergrube aus Backsteinen sei die Nachbildung des Heiligen Grabes, dürfte selbst hartgesottene Marketingleute vor Neid erblassen lassen. Es war anscheinend ein gewisser Berthold von Denkendorf. Ein angestaubter Gebetsgarten, der inmitten nackter Steine steht, lädt zum Nachdenken ein. Ich zünde eine Kerze an.
Vielleicht rechnet man auf solchen Touren nicht mit Regen, weil auf den Werbebroschüren der Himmel immer blau ist. Das grüne Heftchen über den Jakobsweg haben der Tübinger und der Esslinger Landrat im Frühjahr auf der CMT in Stuttgart präsentiert, als sie den Lückenschluss der letzten Etappe des Jakobsweges von Rothenburg ob der Tauber nach Rottenburg feierten.
Eigentlich ist der Lückenschluss allein der privaten Initiative von Hans-Jörg Bahmüller aus Winnenden zu verdanken. Bahmüller ist ein ruhiger und gelassener Mann im besten Rentenalter. Im Jahr des Jakobus 2004 beschloss er als neue Lebensaufgabe, den Jakobsweg in Württemberg zu rekonstruieren. Alle Kirchen, die Jakob geweiht waren, viele Flur- und Straßennamen, die einen Jakob nannten, verband er auf einer gedachten Line und wies dann auf vorhandenen Wanderwegen eine Route aus. Er baute ein Netzwerk auf, kaufte etwa 4000 blaue Schilder mit der gelben Muschel drauf und schraubte und klebte sie auf der mehr als 200 Kilometer langen Strecke an Schilder, Bäume und auch an Hauswände. »Wir haben immer geklingelt, und wenn keiner zu Hause war, sind wir davon ausgegangen, dass der Hausbesitzer zustimmt«, sagt er augenzwinkernd.
Unter der Autobahnbrücke der A 8 geht es weiter in Richtung Oberensingen. Der Lärm der Autobahn sitzt mir wie ein Alb im Nacken. Es sind nur noch 41 Kilometer nach Tübingen, das müsste in zehn Stunden zu schaffen sein.

Ein Albvereinsschild verkündet, man möge bei hohem Grundwasser vom Pilgerweg abweichen und eine andere Route wählen. Weil Regen ja wohl kein Grundwasser ist, stapfe ich voran. Der Weg führt in einen Sumpf, der in ein Moor geht, das in ein Ried mündet, welches in einer ziemlichen Patschelacke endet. Ich schlage mich durch Brombeeren. Bei den Lindenhöfen wird das Wetter besser. Dort weiden glückliche Kühe mit ihren Kälbern.
Etwa 300 Personen gehen diese schwäbische Route des Jakobsweges jährlich. Ein Rinnsal, aus dem sich der große Fluss der Pilger speist, der sich über die spanische Grenze ergießt. Die meisten Pilger auf dem schwäbischen Jakobsweg sind Frauen; viele, so meint Hans-Jörg Bahmüller, versuchten Depressionen oder einem schweren Schicksal zu entfliehen und so im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine zu kommen. Etliche Privatpersonen haben sich in den vergangenen sieben Jahren bereit erklärt, Pilger aufzunehmen; in Frommenhausen bei Rottenburg gibt es inzwischen wieder eine richtige Pilgerherberge.
Es gibt in Deutschland mittlerweile drei Jakobusgesellschaften, die einen amtlichen Pilgerausweis ausstellen. Als Wallfahrer mit Brief und Siegel gilt man, wenn man die Wegstrecke zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Pferd zurücklegt.
Hinter den grünen Tüchern der Buchen bei Unterensingen ruht einer der größten römischen Gutshofe Württembergs, jetzt nur ein paar Schutthügel. Das bleibt also von den Menschenwerken. Der Wald lichtet sich, ein Acker liegt da wie eine offene Wunde, das ist der Nürtinger Stadtteil Hardt. Berühmt wegen des Pfeifers von Hardt, der einst Herzog Ulrich versteckte, weswegen die Bauern von Hardt über Jahrhunderte keine Steuern zahlen mussten. Vielleicht gibt es deswegen so erstaunlich wenige Gehwege im Flecken. Die Strecke senkt sich ins Aichtal.
»Da nemlich ist Ulrich gegangen«, dichtete Friedrich Hölderlin über den Herzog und den Winkel von Hardt, der zu meiner Rechten liegt, ich muss herab zum Flüsschen Aich. Die Sonne lässt die Bäume erblühen. Die Aich überquert man auf einer Holzbrücke mit einem wackeligen Drehkreuz, das verhindern soll, dass Kompanien von Wanderern sie zum Einsturz bringen.
Bald taucht die Neckartailfinger Martinskirche auf mit dem berühmten schiefen Turm. Er hat sich nach Westen geneigt, in meine Richtung, nach Spanien zu. Willst du mit? Die Kirche bleibt im Dorf, und der Anstieg nach Schlaitdorf tut weh nach einer so langen Strecke, selbst wenn er durch einen bezaubernden Märchenwald führt.
In einer Schlaitdorfer Gastwirtschaft raste ich, am Nebentisch vespern gemütlich die Wirtsleute, was mich dummerweise zu einem Witz verleitet: „Wo eine Kirche ist, ist auch eine Wirtschaft“, sage ich keck. Der Wirt gießt mir ein Radler ein und brummelt: „In Schlaitdorf gehen aber die Uhren anders.“ Doch das stimmt nicht, denn die Turmuhr schlägt zuverlässig eins, als ich das zweite Radler bestelle. Die Kloschüssel hält eine fette Kellerspinne besetzt, ich vertage die Sitzung auf unbestimmte Zeit.
Nach der Mittagsrast bin ich nicht ganz so blau wie der Himmel, der sich kurz zeigt. Nur noch 25 Kilometer. Von Schlaitdorf kann man nach Altenriet blicken und von Altenriet nach Schlaitdorf, eine Art Ansichtskarten-Pingpong, die beide Dörfer auf ihren malerischen Hügeln spielen. Die drei Kaiserberge – Stuifen, Staufen und Rechberg – sind in Sicht, bestimmt 70 Kilometer Luftlinie. Wolken rollen über die Albgipfel und geben scheibchenweise Aussichtslücken frei. Ein heftiger Anstieg folgt jetzt nach Kilometer 30, es ist der letzte schwere auf dieser Etappe und führt über Dörnach und Rübgarten.
Am Ortseingang von Rübgarten raste ich in einer feudal überdachten Bushaltestelle. Der Weg spult sich entlang der Vorgärten ab. Hand in Hand arbeiten der Reiseführer Bahmüllers und die Wegmarkierungen. Jetzt geht es zum Einsiedel, dem Jagdschlösschen des Grafen Eberhard im Barte. Ich gehe in den Hof, um den Weißdorn zu bewundern, den Eberhard einst aus dem Heiligen Lande brachte. Der Orkan Lothar hatte ihn gefällt, doch ein Schößling des Bäumchens grünt noch. Schilder erklären penetrant, dass die Wirtschaft zu und das Gelände privat sei. Ich habe die Himmelsrichtung verloren und irre ein paar Mal um das Gehöft, immer irgendwelchen blauen Schildern entlang. Das ist die Müdigkeit.
Der Weg verläuft auf der Straße nach Pfrondorf, die ein beliebter Schleichweg ist. Nur: die Autos schleichen nicht. »An langen Wandertagen träumte er davon, ein Radarkasten zu sein«, denke ich, dann würden die Autos nicht so rücksichtslos vorbeibrausen.
Beim Joggen nennt man es den Flow, den Fluss, wenn die Gedanken weggedacht sind und man nur noch Körper ist, der Schlaglöcher und die Steine fühlt, der den Wind spürt und die Sonne auf der Haut, der Füße voreinander setzt, während der liebe Gott die Kulissen der Landschaft vor den Augen vorbeischiebt. Da hinten ist man gewesen, da vorne wird man sein.
Ich erwache aus der Trance, als der Waldrand naht und ein Wolkenbruch hernieder geht. Mein Schirm stemmt sich tapfer gegen den Sturm, die Dornenranken reißen am Regencape, aber bald erreiche ich wie vom Reiseführer versprochen die Waldklause Henne. In dem holzverkleideten Beizle ist ein gutes Dutzend älterer Pfrondorfer ausgiebig damit beschäftigt, sämtliche politischen Probleme des Landes dauerhaft zu lösen, schade, dass Winfried Kretschmann nicht da ist. Die weißhaarige Wirtin im Kittelschurz verkauft ein Bier und einen Kaffee für 3,60 Euro. Ob ich einen Pilgerstempel wolle, fragt sie. Nein, danke.
Bald habe ich es geschafft. Jetzt geht es ins Tal nach Bebenhausen, dem kleinsten Stadtteil Tübingens. Von oben kommt es überflüssig flüssig. Dann ragen die mächtigen Stämme des Schönbuchs auf, die Blätter halten das meiste Nass ab. Die letzten acht Kilometer. Schade, dass keine Zeit bleibt für das Kloster Bebenhausen, diese Ansammlung von gotischen Dächern und Türmen. Die Anlage ist ganz im Mittelalterlichen geblieben, Generationen von Klosterschülern haben sie mit Leben erfüllt.
Am Gegenhang nach Tübingen hinauf hat sich eine Joggerin im Dickicht untergestellt und singt aus Leibeskräften gegen den Regen an. Ich sinne über die Steine nach, die halb behauen im Wald liegen. Waren sie Teile von Gebäuden?
Fremd komme ich in Tübingen an. Wie aus einer anderen Welt gehe ich mit Spaziergängern am Waldrand vorbei in Richtung Stadtzentrum durch ein Tälchen, das zu Uhlands Zeiten noch Elysium hieß und jetzt ziemlich unpoetisch Käsenbachtal. Dort schwelgten die Dichter von Hölderlin bis Ottilie Wildermuth. Hier liegt der geografische Mittelpunkt des Landes, ein konischer Stein bezeichnet ihn, aber Insider wissen, dass es etlicher Berechnungen bedurfte, um den Stein tatsächlich genau hierhin zu rechnen.
Die gelben Muscheln führen in den ältesten Siedlungskern der Tübinger Altstadt, ins Weingärtnerviertel, wo sich nur wenige Touristen hinverirren und wo die beinahe romanische Jakobuskirche steht. Ihr schlichter Bau wirkt gedrungen, weil das Kirchenschiff einst wegen des ständigen Hochwassers zwei Meter aufgefüllt wurde. Hier gingen die ersten Jakobspilger auf den Weg, hier hat man mittelalterliche Jakobsmuscheln gefunden, und hier ist der Endpunkt meiner Tagesreise. Die Tür knarzt, das Schiff ist dunkel. Ein Dutzend Menschen haben sich zu einer Art Gottesdienst zusammengefunden, sitzen in der Apsis und schweigen. Ich setze mich dazu. Ein Freund bat mich, für ihn zu beten. Die Ruhe ist wieder da, die Dämmerung, das Kerzenlicht. Das Schweigen wird ab und zu durch Orgelspiel durchbrochen.
Irgendwann wuchte ich die schmerzenden Knie in die Höhe, es ist Nacht geworden. Ich schlage das Portal zu, am rechten Türbogen leuchtet die gelbe Muschel auf. Mein lieber Jakobsweg, vergiss es für heute. Am Bahnhof gibt’s Döner.
Am nächsten Tag sind die Waden steinhart und die Sehnen schmerzen. Ich will diesen Weg nicht in Tübingen enden lassen, sondern dahinter. Der Route führt über den Schlossberg hinauf zur Wurmlinger Kapelle und dort weiter nach Rottenburg, dann in das Elsass hinein. Dahinter kommen die Pyrenäen und nach 2200 Kilometern Pilgerweg Santiago de Compostela, danach der Atlantik, Amerika, der Pazifik, Asien. Vor der Wurmlinger Kapelle kehre ich um. Eines Tages werde ich weitergehen.

Wegbeschreibung der Etappe unter occa.de.

»Sie fahren!«

Esslingen: Wie gut, dass es Leitsysteme gibt, die genauestens auf meteorologische Veränderungen reagieren!
Von Ulrich Stolte [übernommen aus der Stuttgarter Zeitung]
Schilder helfen den Menschen. Die Hilfe ist da am größten, wo sich die Zeichen am Straßenrand auf die Sorgen und Nöte von uns einstellen. Nur so fühlen wir uns von mächtigen Gebilden wie der StVZO Anhang EV oder dem BMVBS verstanden, was stets guttut auf den unbarmherzigen Kilometern der Fahrt zwischen Wohn- und Dienstort. Und wenn ich in Wolkenbrüchen mit Tempo 15 über die B 27 schleiche und der Scheibenwischer nach einer Minute das Wasser so weit abgekratzt hat, dass ich kurz einen Blick nach draußen werfen kann, erblicke ich immer das Schild des Verkehrsleitsystems, das mir anzeigt: »Regen, langsam fahren«. Und es wird klar, dass irgendwo in den Schaltkreisen der Stuttgarter Verkehrsrechner jemand sitzen muss, der meine Ängste kennt.
Wie schrecklich war es dann, als diese seit Jahren lieb gewonnene Verschmelzung von Autofahrer und Schild neulich in irgendeiner Gemeinde auf den Fildern so schnöde, so unachtsam unterbrochen wurde. Es war am rechen Straßenrand. Es war eine Tafel mit orangefarbenen Leuchtbuchstaben, die mich anbelferten wie die Schnauze eines Kettenhundes: »Sie fahren 51 Stundenkilometer!«, behauptete die Anzeigentafel. Aber es stimmte nicht: Ich fuhr doch keine Stundenkilometer. Ich fuhr doch Auto. Ratlos verbrachte ich die nächsten Tage hinter dem Steuer, und die tägliche Fahrt über die B 27 kam mir kälter und unbarmherziger vor denn je. Einige Wochen später rollte ich wieder durch besagtes Dorf auf den Fildern, und irgendjemand hatte der gellenden Anzeigentafel den Strom abgedreht. »Sie fahren« stand da nur noch. Ich blickte auf den Tachometer. »Ich fahre«, dachte ich. »Es stimmt.« Ich fuhr, und die lang entbehrte Einheit zwischen Schildern und Autofahrer war da, unverbrüchlich wie nie zuvor. Zuweilen, das wurde mir klar, sendet auch ein kühler Spätsommer goldene Altweiberfäden aus.

»Sitzstreik der Stammtische!«

Gastbeitrag von R. H.:
1986 entstand er aus einem Seminar des Rhetorikprofessors Walter Jens heraus: Der Literaten-, Journalisten- und Satirikerstammtisch »Unser Huhn«, der hier in Tübingen auch eine (leider nur kurzlebige) Satirezeitschrift gleichen Namens herausbrachte.

1989 tönten wieder mal einige Politiker von der »Lufthoheit über den Stammtischen«, und der Stammtisch »Unser Huhn« beschloß: Jetzt reicht’s! Wir sind keine Dumpfbacken, sondern sich ernsthaft über ernsthafte Themen unterhaltende Bürger, die keine Diffamierung verdient haben. So rief der Stammtisch »Unser Huhn«, dem ich seit 2006 angehöre, 1989 zum bundesweiten Sitzstreik aller Stammtische auf – und schaffte es damit sogar ins ZDF-»Heute journal«, ebenso wie in die Abendschau von Südwest 3.

1989 schwer aktiv: »Unser Huhn«

Rauchende Frauen: Das galt 1989 als Zeichen der Emanzipation. Fern war das Rauchverbot in Kneipen, undenkbar – die Diskussion um die Frauenquote (damals noch nicht so genannt) ist uns geblieben.

»Mein Gott, waren wir damals alle jung!« entfuhr es einem Gründungsmitglied beim Betrachten. Er möge getröstet sein: Er gehört zu denjenigen, die mit 40 markanter und männlicher aussehen denn als 20jährige Jüngelchen.

Ulrich Stolte 1989 – Standbilder anderer Stammtischfreunde können auf Wunsch nachgeliefert werden