12.4Ins dunkle Thann
Das Zimmer kostete 130 Euro, die zwei Bonbons auf dem Schreibtisch des Hotelzimmers waren umsonst. Ich hätte irgendetwas klauen sollen, um die Kosten zu minimieren, und war schon wieder beim Sinn des Pilgerns: Man klaut nichts. Schon allein deswegen nicht, weil man das Zeug ja alles tragen muss, und der Weg von Ensisheim nach Thann am Ostrand der Vogesen ist lang.
Auf dem Radweg entlang des Flüsschens Thur fahren quietschbunte Gesellen, Kanarienvögel, die mich freundlich grüßen. Immer aber wenn ich unter Sonnenbrille und Helmzier schaue, sehe ich steinalte Gesichter, verhärmt, unrasiert, graue Haut.
Was ist bloß passiert mit den Rentnern der Welt? Zu meiner Zeit hatten sie blassgrüne Kniebundhosen und hellgraue Westen, dazu ein grünes Stoffhütchen, in der Hand den Wanderstock. Aber nun: Neongrün, leuchtgelb, frühwarnorange, supergaublau? Vielleicht nehmen die Rentner die Farben anders wahr? Oder sie versuchen, sich durch bunte Kleidung die Jugend zurück zu kaufen? Man sollte doch gerade in dem Alter alt genug sein, um solchen Torheiten nicht die Bahn zu brechen. Verrückt diese Alten. Ich ziehe mir meine rotweiß gestreiften Ringelsocken hoch und marschiere weiter.
Zeit, um beim Arzt anrufen, ob ich endlich die Nagelpilztabletten nehmen kann.
Die Anrufliste sagt:
4.04: Fünf Anrufe, immer besetzt
5.04: Zwei Anrufe, immer besetzt
Auch 5.4.: Ein Anruf, Verbindung kommt zustande, reißt wegen schlechten Empfangs ab.
6.04: Zwei Anrufe, immer besetzt
7.04: Ladekabel kaputt, kein Akku
8.04: Wochenende
9.04: – “ –
10.4: fünf Anrufe, immer besetzt
11.4: fünf Anrufe, immer besetzt
12.4: ein Anruf, besetzt (leckt mich am Arsch)
13.4: Verbindung kommt zustande, Blutbild okay, ich kann die Tabletten nehmen.
Gut, dass ich diesen Arzt habe.
Im Regen nach Thann gehumpelt, glitzernder Sprühregen, durch den die Sonne schien. Sie machte so erst das Regenausmaß deutlich, spiegelnde Wasserlachen und vor mir drei Jungs, die sich mit großem Gelächter einen Regenschirm teilten. Zwei Große aneinander gequetscht, der dritte Kleine trottete hinterher, indem er sich an den Jacken der Großen festhielt. Immer mal wieder rückte einer der Großen den Schirm zurecht, wenn es ihm auf den Scheitel tropfte. Sie erinnerten mich an Mörike, der einst mit zwei Kommilitonen von Tübingen nach Süden wanderte. Zu dritt teilten sie sich einen Mantel. Je ein Kerl stecke in einem Ärmel und der Kleinste musste in die Mitte.
Im Gite treffe ich die Pilgerin wieder, wir teilen das Abendessen und trinken Tee.
Beim Nasenhaare schneiden sinniere ich über den Sinn von Nasenhaaren, dass nämlich keine Mücken reinfliegen können und komme zu einer erschreckenden Erkenntnis:
Evolution heißt ja, dass für alles Gute, das unser Körper aufweist, Unzählige gestorben sind.
Warum gibt es keine Ohrenhaare, dabei ist doch jenem antiken Kaiser eine Fliege über das Ohr ins Hirn gekrochen, weswegen er elendiglich daran sterben musste!
Andererseits ist es auch gut, wenn man keine Ohrenhaare schneiden muss.
13.4
Nach Bellemagny.
Die Pilgerin kommt in mein Zimmer und fragt mich, ob ich ihr helfen könnte, das Kondom überzuziehen. In solchen Fällen hilft man gerne, zumal ich mit dem Erwerb des Pilgerausweises auch zugleich Mitglied in der Beuroner Jakobspilger Gesellschaft geworden bin und damit zur Freundlichkeit verpflichtet.
Ich verstehe nur nicht ganz, was sie damit meint. Jeder fromme Pilgersmann weiß doch, dass neben der Hauptkirche eines Bischofssitzes, dem Dom, oft eine Zweitkirche existiert, der Condom, der aber gemeinhin Conkathedrale genannt wird.
Im Zimmer angekommen wird mir klar, dass die Pilgerin ihren roten Ganzkörperregenumhang Kondom getauft hat. Ich ziehe ihn ihr über und Rotkäppchen verlässt das Zimmer. Ich bleibe und warte, bis der Regen aufhört.
Die Kathedrale von Thann ist sehr schön, ganz ihrer selbst bewusst. Ich schließe die Augen, um zu beten, noch mit geschlossenen Augen spürt man die Ruhe und das Glück, das daraus folgt. Das Fensterlicht wird unterstützt von kleinen Scheinwerfern, die die Säulenheiligen in Licht und Schatten heraus modellieren.
Werktags hat man die Kathedralen für sich alleine. Man fühlt sich wie auf einem großen weiten Feld. Um einen herum schaffen sie einen Raum, der Abstand bietet von Welt und Zeit. Versuche, mir vorzustellen, wie die Kathedrale zu ihren Blütezeiten aussah. Die Gesänge von Mönchen, die weihrauchwingenden Priester, die Menschen, die zu den Beichtstühlen eilten, das Gemurmel von Gebeten, jetzt ist alles gewichen einer stillen Erhabenheit, die in sich ruht.
Ein Gutes hat der Regen: Der Frühling ist hervorgebrochen, Moos leuchtet, Blätter entfalten sich, die Anemonen haben ihre Schuldigkeit getan und machen Platz für Scharbockskraut und Trollblumen. Was für ein Gelb! So ist Gutes und Schlechtes immer im Leben vermischt und in den Zeiten, in wir glauben eine Pechsträhne zu haben, haben wir nur verlernt, das Gute zu sehen.
Meine Couchsurfing Gastgeberin in Mömpelgard ruft an für die Details: „Ihr Deutsche esst doch Wurst und Bier?“ „Außer Freitags“, gebe ich zurück, „da essen wir Fisch, Wurst und Bier.“
Die 19 Kilometer gehen quer durch die Vogesen. Es regnet wieder, Waldarbeiter haben den hellen Buchenwald in ein Trümmerfeld verwandelt. Der Weg ist so zerfurcht von tiefen Radspuren, dass man ihn als Kulisse für einen Film aus dem Ersten Weltkrieg verwenden könnte. Ich muss mich seitab durch das Unterholz wälzen, kann meinen Schirm nicht öffnen, der Regen rinnt in den Kragen und die nassen Zweige pinseln mir auch jene Ecken meiner Kleidung mit Wasser voll, an die der Regen nicht dringt. Der Weg ist nicht mehr zu erkennen, begraben unter monströsen Baumleichen. Ich kämpfe mich lange durch den Wald, bin völlig erschöpft. Ist das der Sinn des Pilgerns, leiden um des Leidens willen? Der Wald aber entschädigt durch hemmungsloses Grün. Durch Rinnsale, die leis murmelnd über Hänge und Wegspuren tröpfeln, durch Vogelgezwitscher. Ich kann nicht mehr. Schließlich gelange ich an eine Straße über die Autobahn, an der ein Trupp Zöllner Obacht hält. Nichts bringt mich mehr auf diese Schlammwege. Ich folge der Straße nach Bellmagny. Ist es das, was der Psalm 23 sagt, und ob ich schon wanderte in finsterem Tal … werde ich wohnen im Hause des Herrn immerdar? Eine Zelle im Kloster von Bellmagny genügt einstweilen.
Das Kloster ist still im Abenddunkel, eine einzelne Tür steht noch offen. Eine wunderbare Einladung. Ich schreite hindurch, weiß nicht, was ich angesichts der vielen Gebäude tun soll, nehme das größte Haus, höre Stimmengewirr und es wird mir geöffnet. Die Schwester Oberin höchstselbst, eine quicklebendige Vilshoferin aus Niederbayern, quirlt und huscht durch das Haus mit seinen vielen verwunden Gängen, alle zwei Meter wechselt das Fußbodenmuster. Ich bekomme ein Zimmer, werde dann ins Esszimmer geführt.
Antike punzierte Lederstühle, ein riesiges Engelgemälde lehnt an der Wand, der Raum in Weiß mit Standuhr und Anrichte.
Eine dunkelhäutige Schwester, die in Passau zu den Benediktinerinnen gekommen ist, serviert das Essen. Die Pilgerin ist auch schon da, und es gibt erst mal Suppe.
Ein tauber 86-jährigem Franzose isst mit uns.
Ich frage die Schwester Oberin nach dem benediktinischen ora et labora. Sie erklärt mir, es gehe darum, alles was man tue, für Gott zu tut, so dass auch Arbeiten ein Gottesdienst ist. Ich erinnere mich an einen schwäbischen Bäcker: „Gute Brezla bacha, isch Gott gnuag globt.“
Es war ein sehr harter Pilgertag. Ich sage der Oberin, dass ich am Sinn des Pilgerns gezweifelt hätte und dass ich mich immer noch fragte, warum ich mir das antue, statt in einem Hotelzimmer zu liegen und Romane zu schreiben. „Der Weg wird Ihnen die Antwort geben“, sagt sie weise.
Wir kriegen WLAN und die Oberin erzählt vom Versuch der Benediktinerinnen, in Madagaskar eine Niederlassung zu grünen. Läuft schlecht. Dennoch unterhält der Orden gute Beziehungen dahin. Ich erzähle, dass ich mir in der Gegend eine Malaria geholt habe. „Wissen Sie, an was ich gedacht habe, als ich zum ersten Mal von Madagaskar hörte?“, fragt die Oberin und singt. „Wir lagen vor Madagaskar. . .“ Wir schmettern die ganze erste Strophe, „… uhunnd hatten die Pest an Bord.“
Ich darf mit zum Abendgebet. Dünne Stimmen singen das Complet. Ich knie nieder, lasse mich von ihren Stimmen mittragen. Muss höllisch aufpassen, dass ich nicht in religiöse Verzückung gerate. Heule beinahe. Ist halt so. Wieder fliegen die Gebete mir zu. Ich lasse die schmerzenden Muskeln mitfliegen.
Will morgen zum Laudes, dem Morgengebet. Ich kann halt keine guten Brezeln backen.
14.4
Bellmagny-Belfort
Ein gestrandeter Elsässischer Selfmademan, der eine Zeitarbeitsfirma mit 500 Leuten hatte, frühstückt mit uns. Er ist mit seiner Tochter ins Kloster eingezogen. Er redet über die Nutzlosigkeit des Reichtums und wirbt für das Grundeinkommen.
Jetzt erkenne ich den Grundfehler im Denken von Karl Marx: Er ging stillschweigend davon aus, dass immer genug Arbeit für alle da sei. Aber es ist nie genug Arbeit für alle da. Und das ist die gesellschaftliche Aufgabe, die wir bewältigen müssen.
Denke mir beim Frühstück einen Science Fiction Roman aus. Wenn die Roboter uns alle Arbeit abnehmen, dann würde es doch wieder eine Zukunft für die Klöster geben. Denn wo sollten die Leute sonst hin, als in eine spirituelle Gemeinschaft, wo man der Arbeit enthoben ist.
Das Grundeinkommen würde auch ein soziales Problem aus der Welt schaffen, das darin besteht, dass es geradezu die Richtschnur des Kapitalismus ist, immer einen großen Teil der Menschen in Arbeitslosigkeit zu halten. Nur wenn sich viele Menschen um einen Arbeitsplatz schlagen müssen, akzeptieren sie schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen, weil sie froh sind, dass sie überhaupt irgendwo untergekommen ist. Merke, dass das französische wirtschaftliche Denken tatsächlich ein Gegenpol ist, zum amerikanisch-deutschen Denken.
Wolken dräuen vor dem Kloster, ich unterhalte mich mit einer schlanken Dame, die sich wohl um die alten Leute im Kloster kümmert, über den dräuenden Regen: „Bon Courage!“ sagt sie nur, Guten Mut. Ich bin gerührt. Die deutschen Ermunterungsrufe heißen ja: „Hau rein“, oder „Viel Spaß“. Denke, es ist besser, in einer Mut-Gesellschaft zu leben, als von Brutalo-Spaßgesellen umgeben zu sein. Mit dem Bon Courage im Rücken kämpfe ich mich wieder durch die Schlammwege. Ich hatte mir das so romantisch vorgestellt, in den Frühling zu wandern. Mir war aber nicht klar gewesen, dass der Frühling mitten im April liegt: Also wandere ich in den April. Sonne, Wolken und Regen in rascher Folge. Über meine Jacke, die ich längst hatte wegwerfen wollen, bin ich gottfroh.
Ich verlasse das Elsass und wandere in die Franche Comté. Zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald liegt ein kleines Hügelland, die Burgundische Pforte, die wohl dazu geführt hat, dass der Rhein durch die gleichnamige Tiefebene nach nach Norden abgebogen ist, und nicht als europäischer Amazonas in die Rhone oder die Loire mündete. Die Sonne lässt die Wolken verdampfen und durch das Rhonetal strömt warme Mittelmeerluft über die Hügel. Es wird richtig warm. Mein altes Achillessehnenleiden bricht wieder aus, ich kann den Fuß kaum bewegen. Doch hat das Leiden ein Gutes, ich komme nur im Schneckentempo Richtung Belfort und kann die wunderschönen Märchenwälder der Burgundischen Pforte genießen. Ich bin immer noch zu schwer. Der Speck muss weg. Ich versuche, bis zur Erschöpfung zu marschieren, damit mein Körper an seinen toten Punkt kommt, wo er von der Kohlenhydratverbrennung auf die Fettverbrennung umstellt. Das Problem ist dabei, dass ich nicht unterscheiden kann, wo nur Erschöpfung ist und wo die absolute Erschöpfung.
Ich ziehe für mich die Grenze, dass die Erschöpfung dann beginnt, wenn ich nicht mehr weiter kann und die absolute Erschöpfung dann eintritt, wenn die Halluzinationen anfangen. Der Mann mit den langen graumelierten Haaren, der plötzlich wieder neben mir steht, stimmt zu.
Die Jugendherberge in Belfort ist mehr oder weniger ein Asylantenheim, in dem aber auch Rentner und Sozialhilfeempfänger für wenig Geld ein Essen bekommen. Eine schöne Geste, ich treffe die Pilgerin wieder, die ihren Mann morgen erwartet, der sie ein Stück begleitet. Wir gehen abends in eine Bar. Mit Murrat, dem Kneipier, muss ich über die Lügenpresse sprechen. Nein, mir schreibt keiner meine Meinung vor, nein, es war nicht der CIA der Kennedy umgebracht hat, nein die Juden sind nicht an allem Schuld, nein, der Westen hat nicht alles Unglück in der arabischen Welt ausgelöst. Als ich völlig am Ende aus der Kneipe humple, ruft mir Murrat hinterher: „So willst du gehen? Du kannst ja gar nicht gehen. Ich fahr dich morgen nach Montbeliard!“
15.4.
Belfort-Montbeliard
Wollte eigentlich jetzt schon kurz vor Santiago sein. Hatte gestern endgültig beschlossen, meine Jacke wegzuwerfen, worauf sich das gute Stück dazu verstieg, mir einen Regen auf das Haupt zu zürnen, der nicht nur sich, sondern auch mich gewaschen hat. Ich werfe dafür ein T-Shirt weg.
Mache jetzt abends und morgens Gymnastik um meine lädierte Achillesferse zu entlasten. Was könnte ich sonst noch tun? Pilgerreise abbrechen, mir einen Bungalow mieten und einen Weltbestseller schreiben? Mir ein Pferd, wahlweise Fahrrad kaufen und hinradeln beziehungsweise galoppieren? Zwei Wanderstöcke kaufen, um den Fuß zu entlasten, neue leichte Schuhe besorgen? Allerdings war ich bei all dem Schlamm auf dem Weg froh um meine hochgeschlossenen Treter. Vielleicht hilft ausruhen, das hilft immer. Und der Rucksack muss leichter werden. Aber wie? Könnte die überstehenden Gurtenden abschneiden und kürzen.
Der Weg wird dich lehren, wie du ihn zu gehen hast. Zumindest mit weniger Selbstüberschätzung.
Es regnet derart in Belfort, dass ich Murrats Angebot annehme, mich nach Montbeliard zu kutschieren, schon allein um des Symbols Willen, dass ein Muslim einem Christen beim Pilgern hilft. Falls mal jemand auf der Hadsch durch Tübingen kommt und nach Mekka will, nehme ich ihn auch ein Stück mit. Überlege, ob das schwäbische „hatschen“ gleich „gehen“, von der Hadsch kommt. Flugs eine Dissertation über semitisch-alemannische Lehnwörter verfasst.