Der Jakobsweg, Ultreya – Teil 3

12.4Ins dunkle Thann
Das Zimmer kostete 130 Euro, die zwei Bonbons auf dem Schreibtisch des Hotelzimmers waren umsonst. Ich hätte irgendetwas klauen sollen, um die Kosten zu minimieren, und war schon wieder beim Sinn des Pilgerns: Man klaut nichts. Schon allein deswegen nicht, weil man das Zeug ja alles tragen muss, und der Weg von Ensisheim nach Thann am Ostrand der Vogesen ist lang.  

 
Auf dem Radweg entlang des Flüsschens Thur fahren quietschbunte Gesellen, Kanarienvögel, die mich freundlich grüßen. Immer aber wenn ich unter Sonnenbrille und Helmzier schaue, sehe ich steinalte Gesichter, verhärmt, unrasiert, graue Haut. 

Was ist bloß passiert mit den Rentnern der Welt? Zu meiner Zeit hatten sie blassgrüne Kniebundhosen und hellgraue Westen, dazu ein grünes Stoffhütchen, in der Hand den Wanderstock. Aber nun: Neongrün, leuchtgelb, frühwarnorange, supergaublau? Vielleicht nehmen die Rentner die Farben anders wahr? Oder sie versuchen, sich durch bunte Kleidung die Jugend zurück zu kaufen? Man sollte doch gerade in dem Alter alt genug sein, um solchen Torheiten nicht die Bahn zu brechen. Verrückt diese Alten. Ich ziehe mir meine rotweiß gestreiften Ringelsocken hoch und marschiere weiter.
Zeit, um beim Arzt anrufen, ob ich endlich die Nagelpilztabletten nehmen kann. 

Die Anrufliste sagt: 

4.04: Fünf Anrufe, immer besetzt

5.04: Zwei Anrufe, immer besetzt

Auch 5.4.: Ein Anruf, Verbindung kommt zustande, reißt wegen schlechten Empfangs ab.

6.04: Zwei Anrufe, immer besetzt

7.04: Ladekabel kaputt, kein Akku

8.04: Wochenende 

9.04: – “ –

10.4: fünf Anrufe, immer besetzt

11.4: fünf Anrufe, immer besetzt

12.4: ein Anruf, besetzt (leckt mich am Arsch)

13.4: Verbindung kommt zustande, Blutbild okay, ich kann die Tabletten nehmen. 

Gut, dass ich diesen Arzt habe. 
Im Regen nach Thann gehumpelt, glitzernder Sprühregen, durch den die Sonne schien. Sie machte so erst das Regenausmaß deutlich, spiegelnde Wasserlachen und vor mir drei Jungs, die sich mit großem Gelächter einen Regenschirm teilten. Zwei Große aneinander gequetscht, der dritte Kleine trottete hinterher, indem er sich an den Jacken der Großen festhielt. Immer mal wieder rückte einer der Großen den Schirm zurecht, wenn es ihm auf den Scheitel tropfte. Sie erinnerten mich an Mörike, der einst mit zwei Kommilitonen von Tübingen nach Süden wanderte. Zu dritt teilten sie sich einen Mantel. Je ein Kerl stecke in einem Ärmel und der Kleinste musste in die Mitte.  
 Im Gite treffe ich die Pilgerin wieder, wir teilen das Abendessen und trinken Tee.
Beim Nasenhaare schneiden sinniere ich über den Sinn von Nasenhaaren, dass nämlich keine Mücken reinfliegen können und komme zu einer erschreckenden Erkenntnis: 
Evolution heißt ja, dass für alles Gute, das unser Körper aufweist, Unzählige gestorben sind. 
Warum gibt es keine Ohrenhaare, dabei ist doch jenem antiken Kaiser eine Fliege über das Ohr ins Hirn gekrochen, weswegen er elendiglich daran sterben musste!
Andererseits ist es auch gut, wenn man keine Ohrenhaare schneiden muss. 

13.4

Nach Bellemagny. 

Die Pilgerin kommt in mein Zimmer und fragt mich, ob ich ihr helfen könnte, das Kondom überzuziehen. In solchen Fällen hilft man gerne, zumal ich mit dem Erwerb des Pilgerausweises auch zugleich Mitglied in der Beuroner Jakobspilger Gesellschaft geworden bin und damit zur Freundlichkeit verpflichtet. 
Ich verstehe nur nicht ganz, was sie damit meint. Jeder fromme Pilgersmann weiß doch, dass neben der Hauptkirche eines Bischofssitzes, dem Dom, oft eine Zweitkirche existiert, der Condom, der aber gemeinhin Conkathedrale genannt wird. 
Im Zimmer angekommen wird mir klar, dass die Pilgerin ihren roten Ganzkörperregenumhang Kondom getauft hat. Ich ziehe ihn ihr über und Rotkäppchen verlässt das Zimmer. Ich bleibe und warte, bis der Regen aufhört.  

Die Kathedrale von Thann.
 
Die Kathedrale von Thann ist sehr schön, ganz ihrer selbst bewusst. Ich schließe die Augen, um zu beten, noch mit geschlossenen Augen spürt man die Ruhe und das Glück, das daraus folgt. Das Fensterlicht wird unterstützt von kleinen Scheinwerfern, die die Säulenheiligen in Licht und Schatten heraus modellieren.
Werktags hat man die Kathedralen für sich alleine. Man fühlt sich wie auf einem großen weiten Feld. Um einen herum schaffen sie einen Raum, der Abstand bietet von Welt und Zeit. Versuche, mir vorzustellen, wie die Kathedrale zu ihren Blütezeiten aussah. Die Gesänge von Mönchen, die weihrauchwingenden Priester, die Menschen, die zu den Beichtstühlen eilten, das Gemurmel von Gebeten, jetzt ist alles gewichen einer stillen Erhabenheit, die in sich ruht. 
Ein Gutes hat der Regen: Der Frühling ist hervorgebrochen, Moos leuchtet, Blätter entfalten sich, die Anemonen haben ihre Schuldigkeit getan und machen Platz für Scharbockskraut und Trollblumen. Was für ein Gelb! So ist Gutes und Schlechtes immer im Leben vermischt und in den Zeiten, in wir glauben eine Pechsträhne zu haben, haben wir nur verlernt, das Gute zu sehen. 
Meine Couchsurfing Gastgeberin in Mömpelgard ruft an für die Details: „Ihr Deutsche esst doch Wurst und Bier?“ „Außer Freitags“, gebe ich zurück, „da essen wir Fisch, Wurst und Bier.“
Die 19 Kilometer gehen quer durch die Vogesen. Es regnet wieder, Waldarbeiter haben den hellen Buchenwald in ein Trümmerfeld verwandelt. Der Weg ist so zerfurcht von tiefen Radspuren, dass man ihn als Kulisse für einen Film aus dem Ersten Weltkrieg verwenden könnte. Ich muss mich seitab durch das Unterholz wälzen, kann meinen Schirm nicht öffnen, der Regen rinnt in den Kragen und die nassen Zweige pinseln mir auch jene Ecken meiner Kleidung mit Wasser voll, an die der Regen nicht dringt. Der Weg ist nicht mehr zu erkennen, begraben unter monströsen Baumleichen. Ich kämpfe mich lange durch den Wald, bin völlig erschöpft. Ist das der Sinn des Pilgerns, leiden um des Leidens willen? Der Wald aber entschädigt durch hemmungsloses Grün. Durch Rinnsale, die leis murmelnd über Hänge und Wegspuren tröpfeln, durch Vogelgezwitscher. Ich kann nicht mehr. Schließlich gelange ich an eine Straße über die Autobahn, an der ein Trupp Zöllner Obacht hält. Nichts bringt mich mehr auf diese Schlammwege. Ich folge der Straße nach Bellmagny. Ist es das, was der Psalm 23 sagt, und ob ich schon wanderte in finsterem Tal … werde ich wohnen im Hause des Herrn immerdar? Eine Zelle im Kloster von Bellmagny genügt einstweilen.
Das Kloster ist still im Abenddunkel, eine einzelne Tür steht noch offen. Eine wunderbare Einladung. Ich schreite hindurch, weiß nicht, was ich angesichts der vielen Gebäude tun soll, nehme das größte Haus, höre Stimmengewirr und es wird mir geöffnet. Die Schwester Oberin höchstselbst, eine quicklebendige Vilshoferin aus Niederbayern, quirlt und huscht durch das Haus mit seinen vielen verwunden Gängen, alle zwei Meter wechselt das Fußbodenmuster. Ich bekomme ein Zimmer, werde dann ins Esszimmer geführt.

Antike punzierte Lederstühle, ein riesiges Engelgemälde lehnt an der Wand, der Raum in Weiß mit Standuhr und Anrichte. 

Eine dunkelhäutige Schwester, die in Passau zu den Benediktinerinnen gekommen ist, serviert das Essen. Die Pilgerin ist auch schon da, und es gibt erst mal Suppe. 

Ein tauber 86-jährigem Franzose isst mit uns. 
Ich frage die Schwester Oberin nach dem benediktinischen ora et labora. Sie erklärt mir, es gehe darum, alles was man tue, für Gott zu tut, so dass auch Arbeiten ein Gottesdienst ist. Ich erinnere mich an einen schwäbischen Bäcker: „Gute Brezla bacha, isch Gott gnuag globt.“ 
Es war ein sehr harter Pilgertag. Ich sage der Oberin, dass ich am Sinn des Pilgerns gezweifelt hätte und dass ich mich immer noch fragte, warum ich mir das antue, statt in einem Hotelzimmer zu liegen und Romane zu schreiben. „Der Weg wird Ihnen die Antwort geben“, sagt sie weise. 

Wir kriegen WLAN und die Oberin erzählt vom Versuch der Benediktinerinnen, in Madagaskar eine Niederlassung zu grünen. Läuft schlecht. Dennoch unterhält der Orden gute Beziehungen dahin. Ich erzähle, dass ich mir in der Gegend eine Malaria geholt habe. „Wissen Sie, an was ich gedacht habe, als ich zum ersten Mal von Madagaskar hörte?“, fragt die Oberin und singt. „Wir lagen vor Madagaskar. . .“ Wir schmettern die ganze erste Strophe, „… uhunnd hatten die Pest an Bord.“ 
Ich darf mit zum Abendgebet. Dünne Stimmen singen das Complet. Ich knie nieder, lasse mich von ihren Stimmen mittragen. Muss höllisch aufpassen, dass ich nicht in religiöse Verzückung gerate. Heule beinahe. Ist halt so. Wieder fliegen die Gebete mir zu. Ich lasse die schmerzenden Muskeln mitfliegen. 

Will morgen zum Laudes, dem Morgengebet. Ich kann halt keine guten Brezeln backen.  

Der Saal des Klosters Bellmagny

 14.4 

Bellmagny-Belfort
Ein gestrandeter Elsässischer Selfmademan, der eine Zeitarbeitsfirma mit 500 Leuten hatte, frühstückt mit uns. Er ist mit seiner Tochter ins Kloster eingezogen. Er redet über die Nutzlosigkeit des Reichtums und wirbt für das Grundeinkommen.
Jetzt erkenne ich den Grundfehler im Denken von Karl Marx: Er ging stillschweigend davon aus, dass immer genug Arbeit für alle da sei. Aber es ist nie genug Arbeit für alle da. Und das ist die gesellschaftliche Aufgabe, die wir bewältigen müssen.
Denke mir beim Frühstück einen Science Fiction Roman aus. Wenn die Roboter uns alle Arbeit abnehmen, dann würde es doch wieder eine Zukunft für die Klöster geben. Denn wo sollten die Leute sonst hin, als in eine spirituelle Gemeinschaft, wo man der Arbeit enthoben ist.
Das Grundeinkommen würde auch ein soziales Problem aus der Welt schaffen, das darin besteht, dass es geradezu die Richtschnur des Kapitalismus ist, immer einen großen Teil der Menschen in Arbeitslosigkeit zu halten. Nur wenn sich viele Menschen um einen Arbeitsplatz schlagen müssen, akzeptieren sie schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen, weil sie froh sind, dass sie überhaupt irgendwo untergekommen ist. Merke, dass das französische wirtschaftliche Denken tatsächlich ein Gegenpol ist, zum amerikanisch-deutschen Denken.

Wolken dräuen vor dem Kloster, ich unterhalte mich mit einer schlanken Dame, die sich wohl um die alten Leute im Kloster kümmert, über den dräuenden Regen: „Bon Courage!“ sagt sie nur, Guten Mut. Ich bin gerührt. Die deutschen Ermunterungsrufe heißen ja: „Hau rein“, oder „Viel Spaß“. Denke, es ist besser, in einer Mut-Gesellschaft zu leben, als von Brutalo-Spaßgesellen umgeben zu sein. Mit dem Bon Courage im Rücken kämpfe ich mich wieder durch die Schlammwege. Ich hatte mir das so romantisch vorgestellt, in den Frühling zu wandern. Mir war aber nicht klar gewesen, dass der Frühling mitten im April liegt: Also wandere ich in den April. Sonne, Wolken und Regen in rascher Folge. Über meine Jacke, die ich längst hatte wegwerfen wollen, bin ich gottfroh.  
Ich verlasse das Elsass und wandere in die Franche Comté. Zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald liegt ein kleines Hügelland, die Burgundische Pforte, die wohl dazu geführt hat, dass der Rhein durch die gleichnamige Tiefebene nach nach Norden abgebogen ist, und nicht als europäischer Amazonas in die Rhone oder die Loire mündete. Die Sonne lässt die Wolken verdampfen und durch das Rhonetal strömt warme Mittelmeerluft über die Hügel. Es wird richtig warm. Mein altes Achillessehnenleiden bricht wieder aus, ich kann den Fuß kaum bewegen. Doch hat das Leiden ein Gutes, ich komme nur im Schneckentempo Richtung Belfort und kann die wunderschönen Märchenwälder der Burgundischen Pforte genießen. Ich bin immer noch zu schwer. Der Speck muss weg. Ich versuche, bis zur Erschöpfung zu marschieren, damit mein Körper an seinen toten Punkt kommt, wo er von der Kohlenhydratverbrennung auf die Fettverbrennung umstellt. Das Problem ist dabei, dass ich nicht unterscheiden kann, wo nur Erschöpfung ist und wo die absolute Erschöpfung. 
Ich ziehe für mich die Grenze, dass die Erschöpfung dann beginnt, wenn ich nicht mehr weiter kann und die absolute Erschöpfung dann eintritt, wenn die Halluzinationen anfangen. Der Mann mit den langen graumelierten Haaren, der plötzlich wieder neben mir steht, stimmt zu. 
Die Jugendherberge in Belfort ist mehr oder weniger ein Asylantenheim, in dem aber auch Rentner und Sozialhilfeempfänger für wenig Geld ein Essen bekommen. Eine schöne Geste, ich treffe die Pilgerin wieder, die ihren Mann morgen erwartet, der sie ein Stück begleitet. Wir gehen abends in eine Bar. Mit Murrat, dem Kneipier, muss ich über die Lügenpresse sprechen. Nein, mir schreibt keiner meine Meinung vor, nein, es war nicht der CIA der Kennedy umgebracht hat, nein die Juden sind nicht an allem Schuld, nein, der Westen hat nicht alles Unglück in der arabischen Welt ausgelöst. Als ich völlig am Ende aus der Kneipe humple, ruft mir Murrat hinterher: „So willst du gehen? Du kannst ja gar nicht gehen. Ich fahr dich morgen nach Montbeliard!“

15.4.

Belfort-Montbeliard
Wollte eigentlich jetzt schon kurz vor Santiago sein. Hatte gestern endgültig beschlossen, meine Jacke wegzuwerfen, worauf sich das gute Stück dazu verstieg, mir einen Regen auf das Haupt zu zürnen, der nicht nur sich, sondern auch mich gewaschen hat. Ich werfe dafür ein T-Shirt weg.
Mache jetzt abends und morgens Gymnastik um meine lädierte Achillesferse zu entlasten. Was könnte ich sonst noch tun? Pilgerreise abbrechen, mir einen Bungalow mieten und einen Weltbestseller schreiben? Mir ein Pferd, wahlweise Fahrrad kaufen und hinradeln beziehungsweise galoppieren? Zwei Wanderstöcke kaufen, um den Fuß zu entlasten, neue leichte Schuhe besorgen? Allerdings war ich bei all dem Schlamm auf dem Weg froh um meine hochgeschlossenen Treter. Vielleicht hilft ausruhen, das hilft immer. Und der Rucksack muss leichter werden. Aber wie? Könnte die überstehenden Gurtenden abschneiden und kürzen.
Der Weg wird dich lehren, wie du ihn zu gehen hast. Zumindest mit weniger Selbstüberschätzung.
Es regnet derart in Belfort, dass ich Murrats Angebot annehme, mich nach Montbeliard zu kutschieren, schon allein um des Symbols Willen, dass ein Muslim einem Christen beim Pilgern hilft. Falls mal jemand auf der Hadsch durch Tübingen kommt und nach Mekka will, nehme ich ihn auch ein Stück mit. Überlege, ob das schwäbische „hatschen“ gleich „gehen“, von der Hadsch kommt. Flugs eine Dissertation über semitisch-alemannische Lehnwörter verfasst. 

Ein magrittsches Wohnhaus in Belfort.

Ultreya – Mon Chemin 2

9.4
 

Immer ein Hingucker. Das Schweisstuch der Veronika im Freiburger Münster
 Unter den Münsterpfeilern flackern die Opferkerzen. Ein Meer aus Ruhe und Bewegung. Ein Strudel aus Dunkelheit und Wärme. Die Madonna darüber in ruhigem Glitzern. Das Freiburger Münster ist derart schwerelos gebaut, dass man nicht weiß, ob die Bündelpfeiler wie Stalaktiten von den Gewölben heruntertropfen, oder ob sie wie Springbrunnen aufsteigen und sich oben zu Gewölben vereinen. Die Wärme und die Dunkelheit. Vor mir ein Pärchen, er kniet am Altar mit einem Knie und spricht sein Gebet. Als er zurück ist auf der Kirchenbank, küsst sie ihn dafür. 
Viele Schweizer sind da, reich jetzt durch den schwachen Euro. 

Vermutlich haben die Eidgenossen die Finanz-, Euro- und Wirtschaftskrise nur deshalb inszeniert, damit sie sich in Freiburg den Kaffee zur Schwarzwälderkirschtorte leisten können. Freiburg hat was Tübingen längst bräuchte, wenn es nicht so verschnarcht wäre. Ein Uniseum, wo man die reiche Geschichte der Fakultät bestaunen kann. Im Unterstock, dem alten Weinkeller der Universität, hängt ein Plastiktablett an der Wand. So hätten die Studenten früher und aus den Blechnäpfen gefressen. Früher? In Tübingen gibt es die heute noch. Schließlich schmeißt der Schwabe nichts weg, was noch gut ist. Kurze Mensabilder aus meiner Studienzeit flackern auf. Der Grieche, der wohl mal in einer Fabrik gearbeitet hatte, und die Salatschüsseln vom Riesentablett einfach in die Auslagen rutschen ließ, dass alles übereinander schwappte, die Dreckbollen im Salat und einmal ein kleiner Regenwurm. Die gute Frau, die immer die Mensamarken verkaufte und die wegrationalisiert wurde, das Reisebüro in der Mensa, in dem ich meine Spanienreise buchte, als ich zum ersten Mal auf den Camino ging. 

 

In Freiburg ein Museumsstück, in Tübingen bittere Realität!
 
Beton drückt der Natur ihren Stempel auf.
  
Abends bei meinem Couch-Surfing Host. Mein Host erwartet mich hinkenden Mann im Café Brazil. Wir reden lange über das Berufsleben, im Wohnzimmer spielen wir das Entr’acte von Jacques Ibert. Verbeugen uns vor imaginärem Publikum. Ich habe lange nicht mehr Querflöte gespielt. 

10.4 
Und nun ist der erste Sonntag meiner Wallfahrt, und ich war nicht in der Kirche. Ich gehe von Freiburg nach Westen Richtung Elsass. In einer Tankstelle kaufe ich mir eine Frankreich-Landkarte Ein Mann ohne Zähne, dem ein Zahnklemptner vage irgendwelche Silberdrähte über den Kiefer gezogen hat, weist mir den Weg nach St. Georgen. Aus Versehen bleibt mein Pilgerführer in irgendeiner Auslage liegen. Unterwegs bemerke ich den Verlust, nein, ich gehe nicht zurück. Nie zurückgehen.  
Ohne Führer folge ich den Radwegen und bin viel schneller unterwegs, Tiengen spritzt vorbei, Munzingen rattert weg, Hausen blitzt kurz auf. Schnörkel gibt es nur da, wo ich in Asphaltschleifen über die Autobahnbrücken muss. Blümchen blühen, Buchen schlagen aus am Wegesrand. Ich denke, die meisten Leute gehen ihren Weg mit dem Schwanz oder mit dem Kopf. Das aber ist falsch. Man muss den Weg mit dem Herzen gehen. Der Kopf findet nachträglich immer eine Erklärung für die Richtung und der Schwanz zeigt eh der Nase nach oder auf eine zu. Mir fällt ein Spruch eines junge Mannes ein, der sagte, ihm sei in seinem Leben sein Penis immer im Weg gewesen. Mir nicht. Nicht mal morgens beim rasieren. 

Doch diese tiefenphilosophischen Betrachtungen werden von einem heimtückischen Überall unterbrochen. Von rechts dräut eine bekannte blaugelbe Pilgermuschel, die mich garantiert wieder auf verschlungene Felsenpfade gelotst hätte und auf alle Fälle auf den Tuniberg mit seiner Kapelle. Ich schleiche mich vorsichtig an dem Muschel-Wegweiser vorbei und nehme den Radweg. Junge, Junge, das war knapp. Von oben blickt die Kapelle ins Tal, ich grüße sie von unten vom Radweg. Das geht doch auch! Hirtenjunge, Hirtenjunge.

Die Frankreichkarte, die ich gekauft habe, ist komplett nutzlos, weil der Maßstab viel zu groß ist. Nun ja, immerhin bin ich den Pilgerführer los und muss ihn nicht kompliziert heimschicken.
Unterwegs spricht mich eine silberne Frau an, brauner Pulli, silbernes Fahrrad, braune Schuhe, radelt im Schritttempo neben mir her. „Ja, die Jungen mit ihren Handys, das ist doch wie eine Sucht, und die Frauen, die haben doch keine Zeit mehr, da haben sie ein Auto, einen Geschirrspüler und eine Waschmaschine und trotzdem haben sie keine Zeit, sie weiß auch nicht was das soll, früher hat man doch einfach miteinander geredet. Jetzt aber hat sie keine Zeit mehr und prescht mit dem Fahrrad vorüber. Kam mir bekannt vor, was sie sagte. Wenn aber alle immer das gleiche reden und glauben, warum ist dann die Gesellschaft so voller Hass?
In Hausen an der Möhlen versuche ich, ein Quartier in Fessenheim zu finden und schaffe es, nach endlosen Versuchen, ins Ausland zu telefonieren, weil ich immer nie weiß, wieviel Nullen oder Kreuze ich vorwählen soll und welche weglassen. Als Pilger sollte man sich eh an den Kreuzen orientieren, ich merke dann, dass Kreuz und Null auf der Tastatur ein und dieselbe Taste sind — versteckter antiklerikaler Angriff? 

Nächste Hürde: Nachdem ein Gespräch zustande gekommen ist: Ich muss aus den Qinzes und Quatrevingts und Douzes und ähnlichem Zahlenunsinn eine verständliche Ziffernfolge hinzukriegen, die ich anrufen kann: Mein Telefonpartner verfällt angesichts meines suevo – französischen ins Elsässische, und so kommt eine Verständigung zustande. Wusste gar nicht, dass das noch gesprochen wird. Ich soll an der Kirche auf ihn warten und dann anrufen. 

Hoffentlich nicht wieder Quatrevingtdisneufs und solche Sachen. 
Jetzt aber ab nach Fessenheim.   
Ohne Pilgermuschel erst einmal falsch abgebogen, schwinge ich mich mit dem Pilgerstock über ein Bächlein, ja wenn’s nur so elegant ausgesehen hätte, wie das kling. Beim nächsten Bächlein ziehe die Schuhe aus, stakse durch und laufe hernach die Füße barfuß trocken. Ein Jogger weist den Weg nach Fessenheim, wo das Atomkraftwerk steht, wie jeder hier in der Gegend weiß. „Und wenn Sie den Schalter sehen, dann schalten Sie es aus!“ Ich präsentiere demonstrativ den Stock. „Ne kaputt machen die schon genug selber.“ 
Gigantische Schleusen am Rhein. Abendsonne an der Fessenheimer Kirche, bis der Herbergsvater kommt. Ich muss morgen früh los, weil bei ihm um acht die Handwerker kommen. Könnt ihr euch nicht mal eine andere Ausrede einfallen lassen?

11.4.
Ich fühle mich wie ein an zwei Ecken abgebranntes Streichholz. Kopf und Füße schmerzen höllisch. Nur in der Leibesmitte herrscht noch Ruhe, aber der Bauch nimmt ja in erschreckendem Ausmaß ab. Das sehe ich im Spiegel eines Fünf Sterne Hotelzimmers. Was war geschehen ? Von Fessenheim wollte ich locker flockig 45 Kilometer nach Thann wandern. Ich ging es gemütlich an, denn wenn man lange Strecken macht, dann soll man nicht hetzen.

Ohne den Pilgerführer ist die Strecke eh kürzer, redete ich mir ein, und so marschierte ich tapfer die Straße entlang nach Hirtzfelden, dann folgte ich der Straße nach Ensisheim, dort wo der berühmte Meteor einschlug, und das mitten im Mittelalter, dass die mittelalterlichen Flugblätter, die vom Donnern und Röhren des Eisenkloßes berichteten, nur so ins Reich davonspritzten.  
Ich ging seitwärts durch das Gelände, die Straße war mir einfach zu befahren. Seltsamer Niederwald, ein sanftgrün wogendes Gras, so grün dass Spaniens Blüten blasse Schemen dagegen waren, aus diesem leuchtenden Grün stockte Niederwald hoch, gekrümmte tote kleine Stämme, um die der grüne Frühling floss. Froh um meinen Wanderstock, der einen Kompass im Knauf hatte, zog ich mich nach Süden, verlor alle Wege,teilte mit Beinen und Stock dieses grün schillernde Meer, trabte über Wildschwein-Spuren weiter nach Süden, die Sonne schien mit dem Gras zu spielen und langte an einem Bauernhof an. Vor einer Wasserleitung stoppte ich, merkte wie erschöpft ich war. Lehnte mich mit dem Rücken an ein Pumpengehäuse und konnte lange nicht aufstehen. 
In Ensisheim sprach mich ein Mann an, der so stank, wie meine Socken, dessen Zähne genau so schütter waren, wie seine Haare allerdings nicht ganz so fettig. Eine Kugel von Mann, dem ein Hund hinterhertrollte. Ich könnte bei ihm schlafen. Ich misstraute ihm und zog weiter, aber der Gedanke in Ensinsheim zu bleiben fraß sich in meinem Kopf fest – ich ließ ein paar Kneipen aus und landete, halb verdurstet in einer Fünf Sterne Hotelbar. Sie gaben mir zwei große Biere. Als ich den Kopf wieder heben konnte, stand fest, ich würde hier ein Zimmer nehmen, egal was es kostete, legte mich aufs Bett und war sofort wieder weg. 

Ultreya mein Weg 1

3.4

  
Wanderer kommst Du nach Frommenhausen, du wirst überwältigt sein, von von soviel Gastfreundschaft dort. Das ist der erste Tag meiner Reise nach Spanien zu Fuß. Nach dem Gottesdienst in der Tübinger Jakobuskirche schütteln freundliche Leute meine Hände, weil ich im Gottesdienst namentlich genannt wurde. Jetzt los. Ich fliege über Sonnenhänge in Richtung Westen, das Tagesgestirn prasselt auf Schafe, Narzissen und Bauernbüble, Junge, Junge. Der Frühling kommt. Oder besser, Hirtenjunge, Hirtenjunge, schließlich geht es über die Wurmlinger Kapelle nach Rottenburg. Einen Kilometer vor Frommenhausen kommt mir eine freundliche Frau entgegen, wo ich denn bliebe und geleitet mich zur Herberge, die errichtet wurde, weil ein Urfrommenhäusener sich mitten in der Renaissance nach Santiago aufgemacht hatte. In der Herberge hat der Herbergsvater ein lustiges Kaminfeuer entzündet, Bier und Radler steht auf dem Tisch, zwei rotbezogene Betten für die Pilger. Ich trinke das Bier und auch den Radler, wie das Gesetz es befiehlt.
Der Sinn des Pilgerns: Das Geben lernen, die Sicherheitsgurte vergessen, das Vertrauen lernen. Wissen, dass alles in Ordnung sein wird, egal was passiert.
Und so große Trauer zurücklassen. Der Sinn des Weges ist wahrscheinlich der Wegrand. Weil da Platz ist für die Ideen. Dort, wo die Dinge auf dich zurinnen, wie Blumen oder Wasser oder Moos, oder ein Eichhörnchen, dort, wo du die Dinge ablegst, die einfach dann nicht mehr da sind, wie Wind oder Zeit. Sag mir grünes Moos, sag mir bittere Erde, sagt mir Blätter, was seht ihr, wenn ich gehe? Ein müder Mann, der nicht wacher wird vom Gehen, der nicht klüger wird beim Wandern, der aber ankommen will. 
Der Weg ist nicht das Ziel. Das Ziel ist das Ziel, und der Weg ist der Weg. Denn auf dem Weg bist du, und du füllst ihn aus. Aus den alten Klamotten wachsen, das ist der Plan, ich hab eine Menge davon mit. 

4.4
  
Den ganzen Tag durch den Schwarzwald gestolpert unter schiefernem Himmel und verwaschner Erde. Von Frommenhausen über Horb und das Neckartal nach Leinstetten bei Alpirsbach, da wo die Kinzig  

 ein Loch in den Wald gesägt hat.
Irgendeiner hat diesen Schwarzwald voller Berge gestellt, ich bin kaum drüber gekommen, ich hab mich geschleppt und geschleppt und es war unendlich schwer. Lerchensporn schiebt sich aus dem Waldboden, Anemonen breiten sich, Huflattich nickt, Moos rollt über die Hänge. Brombeeren reißen an den Waden.

„Ultreya!“, grüßen sich die Pilger, „zum Äußersten“ zu deutsch. Sie meinen damit Santiago de Compostela, in Spanien, am Ende der Welt. Ich bin am zweiten Tag jetzt schon am Äußersten.

Probleme — mindestens fünf Fürze, die um meine Darmwindungen Rennerles spielen. Im rechten Ohr ist etwas, das sich wie Gallerte anfühlt, in der Würmer schwimmen. 

Ihlingen liegt vor mir. Bevor mir ein elender Aufstieg das Mark aus dem Körper saugt und Teile davon zu Blasen formt, behauptet ein Wegweiser, Santiago 2300 Kilometer. Dabei waren es nach Google Maps bloß 1800. Drei Kilometer weiter, beim Abstieg nach Leinfelden, vorbei an einer Lourdesgrotte mit wunderschönen roten Bänken, die aus dem Regenwetter leuchten wie Hagebutten im Winterschnee. Unten steht – – Santiago de Compostela 2500 Kilometer, Mist, muss wohl in die falsche Richtung gelaufen sein. 
Der Sinn des Pilgerns: lernen, was man zurück lassen kann – es ist ganz schön viel.

5. 4
Leinstetten hat 594 Einwohner und vier Aufbackbrötchten. An denen kaue ich jetzt und überlege mir, wie Hape Kerkelings Fortsetzung heißen müsste: „Ich bin dann mal weg – aber komme wieder?“ „Jetzt erst recht weg?“ Für zehn Euro und ein bisschen was kann man mit Kaffee und Käseecken im Pfarrhaus übernachten, rührend sorgt sich die Familie einen Stock drüber um das Wohl der Wanderer. Hat man als Christ die Pflicht, immer gut drauf zu sein, weil einem Gottes Fröhlichkeit die Seele erleuchtet? Oder sind die Badener einfach weniger griesgrämig, als die Schwaben? Reisen erweitert den Horizont. Tatsächlich hat mein Bauch jetzt schon so abgenommen, dass ich in der abendlichen Gymnastik mit meinen Fingerspitzen schon die Knie berühren kann. 
 

Weil ich ein erfahrender Wanderer bin, der weiß, dass man mit zuviel Gepäck und zu langen Distanzen nicht weit kommt, geht es heute nur nach Schenkenzell, weil ich zuviel Gepäck habe und gestern eine zu lange Distanz gemacht habe. 
Die Gallerte im Ohr hat sich zu einer halbseitigen Erkältung ausgewachsen, und die Pupse im Darm haben sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einer After Work Party versammelt. 
Na ja, ich breche auf und bin dann mal weg. Die vier Aufbackbrötchen auch.
Das Glück über Blumenwege im Wald zu gehen. Die Sonne im Tal von Leinstetten. Wer gerne unter Bäumen geht, der ist im Schwarzwald richtig. Ich versuche, den Hautarzt anzurufen, wie es um mein Blutbild steht. Beim dritten Versuch meldet sich jemand, und dann ist die Verbindung weg. Ich erinnere mich daran, wie die Grünen im Wahlkampf rumgetönt haben, sie wollten flächendeckend Breitband DSL einführen in Baden-Württemberg. Wie wäre es, wenn die Brüder flächendeckend Telefonempfang ermöglichten? 
Der Rucksack ist einfach zu schwer, ich fange an, den gelben Muscheln auf blauem Grund zu misstrauen, die immer in die falsche Richtung zu zeigen scheinen. Vielleicht wollen sie einen auf landschaftlich schönen Wegen zu den grandiosen Aussichtspunkten lotsen, zum Henker damit, ich will nach Santiago.
Die Muscheln jagen die Wanderer die Berge hoch wie Hasen. Nicht mit mir denke ich und bleibe in Sternau bei Loßburg schön unten auf der Straße. Bis die sich zu einer Rennstrecke weitet und ich den ganzen Aufstieg nachholen muss und vor einer Rasthütte halbtot hernieder sinke. 
Eine Pilgerin kommt vorbei. Die einzige bisher, 53 Jahre graues Haar, bietet mir ein Du an, feine Dame. Ich versuche, meinen Rucksack leichter zu machen, in dem ich die beiden Schlüsselbänder, die ich dazu verwenden wollte, die Speichen meines Regenschirms dergestalt am Schirmstock zu befestigen, dass auch kein noch so stärker Windstoß den Schirm umknickt, zu etwas sinnvollerem verwende. Ich komme drauf, eines abzuschneiden und an meinem Hut zu befestigen. Damit ich den Hut wiederum am Rucksack befestigen kann, und der Wind in meinen Haaren wühlen darf, der Schlingel, Ständig fasst er einen an. 

Die Pilgerin geht. 
Durch neuen Regen mit sehr schweren Beinen nach Alpirsbach. 
Die Kirche von Alpirsbach: Der Gekreuzigte, aufgespießt; wie im Drahtverhau aller Kriege gestorben. Die Orgel sieht aus wie ein Erdnussautomat. 
An der Straße schüttle ich den Regen aus der Seele wie ein Hund. In der Brauereigaststätte gibt es Schweinshaxe mit Bier und das verleiht mir Kraft.

  
Im Halbgrau der Nacht rauchen die Schwarzwald-Höfe. Der Weg schraubt mich schon wieder in die Höhe und ich kann jetzt keinen Umweg brauchen. Ich höre es trocken bellen, Mist Wölfe! Mit der linken Hand ziehe ich den Pilgerstab, fest entschlossen, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Zwei Rehe springen vor mir über die Böschung, schwarze Haken, die sich ins Moos klammern, hochspringen, zwischen den Stämmen verschwinden. Ganz klar, dass dieses heisere Husten ein Rehbellen war. Weiß doch jeder. Davor fürchten sich doch nur die ganz eingefleischten Flachlandtiroler, 

Der ganze Schwarzwald ist voller Rebellen, notiere ich. 

6.4.

 

Schadensersatz fürs Schnapstrinken???
 
Von Schenkenzell nach wer weiß wohin.
Die Nacht in einer Pension voll von ausgestopften Tieren, Großväter-Möbeln. Ich war der einzige Gast. 
Der Radius meines Bauches hat immer noch nicht so sehr abgenommen, wie ich erhofft hatte, aber ich kann jetzt schon wieder meine Zehen sehen – der Anblick macht mich so betroffen, dass ich erstmal meinen Hautarzt anrief wegen des Blutbildes, war aber dauerbesetzt. Ein paar Schritte gegangen, dann musste ich mich erstmal setzen. Vor mir die Ruine Schenkenberg, eine wildbeschienene Mauer mit malerischem Felsen. Die Bank ist feucht. Aus den Wäldern quellen Regenwolken. 
Ein Regenwurm zieht langsam seine Kreise. Soll ich ihn retten? Was für ein langes Trumm. Ich sehe rosa und blaurosa Ringe, er sucht ein Loch, finden einen Ritz nimmt mit den vordersten Wurmgliedern stockvoll Anlauf und rammt sich dann die Wurmspitze an. Ich sehe deutlich, die Sterne die er gerade sieht. 
„Endlos sind jene Straßen ….“ Immerhin weiß ich jetzt, dass aus der Ohrgallerte nicht die Maul- und Klauenseuche ausschlüpfte, sondern ein Ohrwurm. „Endlos sind jene Straßen“ … Man weiß nicht ganz so genau, was schlimmer ist. 
Unter der Bahnlinie dampft eine Hundehaltern vorbei. Wie altmodisch der Schwarzwald ist, hier rauchen sogar noch die Frauen.

Ich stehe auf, und pinkle. Man soll ja immer seinen Urin kontrollieren. Er ist flüssig. Dann brauche ich mir wohl eine allzu großen Sorgen zu machen. 
Weiter nach Wolfach. 

 

Dicke Eier haben die in Wolfach!
 
Dort wird das Wetter traumhaft, große Schönwetterwolken putzen den Himmel blank. Trüb ist nur das Hefeweizen, das daselbst mir von einer Bedienung nachgetragen wird. Schimpfe noch einer über nachtragende Bedienungen.
Oder vielleicht doch? Die Bedienung verlangt mein Kissen rennt die Stufen hoch und schließt hinterrücks die Wirtschaft ab. Mist, Dabei wollte ich gewollte doch noch Wasser holen gehen … Oder so ähnlich. Weil ich für heute Nacht kein Quartier gekriegt haben, dann kommt zu dem seltenen Vergnügen, eine Nacht im Freien zu schlafen, das noch seltenere Vergnügen eines Freiluft Schisses.

Wieder in die Wälder, ich war lange an einem Flößerweg entlang gegangen, der zeigte, wie tollkühne Burschen in großen Hüten 40 Meter lange Stämme nach Holland verschifften, und das durch winzige Waldbäche! Der Wind verwirbelt das Gras und lässt ihre silbrige Unterseite blitzen. Ob es so ist, dass die hellere Unterseite, Licht auf die darunterlegenden Blätter reflektiert?
Ein Bussard kämpft im Kirnbachtal mit einer Krähe, am Ende sind beide weg. Ich erfahre, dass Kirnbach vom alten Wort Kirn für Mühle kommt. Denke kurz an meine Gotisch-Lehrerin an der Uni Tübingen und an das Wort „Quirna“ für Mühle. Ob das Wort Korn von daher kommt?

  
Da ist noch die Idylle des Frühlings, die aber geht. Wegrand, ihr wisst schon. Ich steige von dort nach Büchereck, eine Schutzhütte in der ich übernachten will. Jetzt ist der Schwarzwald ganz malerisch. Riesige Höfe auf die steilen Schluchten gesteckt. Ein Hund schießt daraus hervor, bellt nicht ganz so zornig wie seine Besitzer, der Hund aber achtet nicht auf den Besitzer, ich nicht auf ihn. Der Hund  stupst mich mit der Nase an die Wade und dann bin ich auch schon weiter den  Weg hochgestiegen. Schwärme von Fledermäusen zittern durch die Luft. 
Die Dunkelheit verfolgt mich, vom Tal her grauen Moos und Tannen und schließlich ist alles Herberge, ein Holzstapel, ein am Wegrand abgestellter Anhänger, das Zelt der Tannenzweige. Als großer Schatten taucht ganz oben die Schutzhütte auf. Innen gibt es Kerzen. 

7.4 
Wenn man früh aufsteht, hat jeder Tag zwei Teile und zwei Chancen. Und jeder Teil ist eine Geschichte. Die erste Geschichte ist aber die: Frierend stand ich auf nach einer Nacht an der Bretterwand der Schutzhütte. Mit nasskalter Harke reißt der Wind durch die Tannen und Fichten. Überwältigende Kälte, überwältigende Schutzlosigkeit. Wenn man nicht ohne einen Vorrat von Wärme auf dem Haus treten kann, dann senst einen das Wetter um wie einen Halm. Mit den klammen Händen, kann ich kaum den Wanderstock halten kann und den Schirm, kann ich auch den Schuh nicht geschneit binden. Das Wasser hat die Schuhe überzogen, wie mit einer Schicht Eis. Ein rettendes Schild weist mich ins Tal auf kürzestem Wege hinein ins Fichtendickicht.
Mittlerweile hat die Fichte den Status eines Parias unter den Bäumen erreicht und alles Schlimme, einschließlich der Klimaveränderung wird ihr zugeschrieben. Einen Vorteil hat sie: Sie hält den ganzen scheiß Regen ab. 

Während es nieselt, diesele ich die Straße herab, stoße auf den Radweg und folge ihm in das Elztal hinab nach Oberwinden. 
Darf man als Pilger fluchen? Nein, ich verstehe, dass die Schöpfer des Jakobswegs viel Zeit verwendet haben, den Pilgern auf ihrem Weg nach innen die Betrachtung der landschaftlichen Schönheiten zu ermöglichen, die ihrerseits wieder einen Weg zu ihrem Schöpfer eröffnen. Wo immer möglich, folge ich den Radwegen, die meistens kürzer sind weil sie den Tälern folgen. Jede blaue Muschel macht mich misstrauisch.  

In Oberwinden treffe ich C. wieder, er ist schwerkrank und wir wissen nur eine Sekunde nicht, wie miteinander umgehen, dann ist es wie früher und wie immer. Wir finden eine von allem Fortschritt verschonte prächtige Wirtschaft, aus der irgendein Pole eine Pizzeria machen wollte und mit stoischer Gelassenheit dem Ruin entgegen dämmert. Und dabei ist die Pizzeria das einzige Lokal im Ort, das offen hat. im Schwarzwald ist man einfach nicht so auf Tourismus eingerichtet. 
Wir umgarnen den Abend mit dem Gespinst zukünftiger Treffen, wie das wohl immer passiert, wenn sich zwei alte Freunde treffen. C, sagt: „In zwei Jahren weiß ich ja nicht, ob ich da noch leb.“ Weil es viel, viel zu spät geworden ist, fahren wir zusammen mit der S-Bahn nach Freiburg.

8.4 
Der Rucksack muss leichter werden.  

Eine Freundin hatte mir mal eine Schublade voller Stringtangas geschenkt, fand sie sexy. Es sind wirklich knappe Dinger und vermutlich muss man sich den Arsch rasieren und solariumbräunen, damit man die anziehen kann. Täglich schaffe ich es, einen nach dem Wandern in einen derart indiskutablen Zustand zu versetzen, dass selbst ich als Schwabe es leichthin schaffe, ihn wegzuwerfen. Tag für Tag macht das locker 30 Gramm aus. Genauso verfahre ich mit den alten T-Shirts, die ich mithabe, eines nach dem anderen werfe ich weg, bis nur noch die Sachen übrig sind, die ich unbedingt brauche. Es ist, als schälte ich mich aus dem alten Leben. Weg mit allem. Ich freue mich über jeden Zahnpasta Dups auf der Zahnbürste, über jeden Strich Hirschhorntalg, mit dem ich mir die Ritze einschmiere, wegen es Wolfs.

Sodele jetzt wird der Rucksack gleich nochmal leichter weil ich zwei Gelenkkapseln esse. Vom Aldi für den älteren Herrn. Jedenfalls ist ein solcher auf der Packung abkonterfeit und macht auf jugendlich, indem er seine Joggingwade dehnt. Die Kapseln sind weg. Gewichtsersparnis,45 Milligramm mindestens. Um ich wie viel schwerer wird eigentlich ein Handy, wenn man es volllädt?
Von Freiburg wieder zurück mit der S-Bahn nach Oberwinden, denn ich will ja damit angeben können, dass ich, von Tübingen nach Spanien durchweg gewandert bin. 

Es wird ein Gewaltmarsch nach Freiburg, den ich mit Energy-Zeugsel zu überstehen hoffe. Sie stammen aus meinem alten Joggingleben und sind, wie sich das für alte Jogginsachen gehört, längs abgelaufen. Ich werfe in den kochenden Ofen meines Körpers ein Glukose-Gel, einen steinhart getrockneten Energy-Marshmallow, einen Traubenzucker, das war ein Werbegeschenk längst erloschener Firma. Es kommt was kommen musste. In Denzlingen, als ich das prächtige Kirchengeläut anhöre, bekomme ich Halluzinationen und sehe einen gepflegten Mann in einer Lederjacke mit braunmelierten Haaren neben mir stehen. Den es nicht gibt. 
Ich maile meinem Verlegerfreund von der Erscheinung. Kann man Gespenster als Email-Anhang verschicken? Der Typ hatte mir bei unserem letzten Besäufnis noch einen Vertrag angeboten, falls ich, wie Hölderlin auf dem Fußmarsch nach Bordeaux von Appoll geschlagen würde und wirre Weltliteratur dichten würde.

„Trink ein Bier“ riet er. Machte ich. Dann fiel mir aber ein, wer der alte Mann war mit den langen Haaren gewesen sein musste. Hölderlin . „Herr Doktor, ich habe Hölderlin.“ 

Selbst die Beton-Preussen sind verschwunden.