Mein Jakobsweg, mi Camino, Teil 14

Der Jesus von Cranjon
Der Jesus von Cranjon

Kornblumen schwimmen im lichtdurchbrochenen Grün
Nachtrag 28.05

Villafranc Montes de Oca – Atapuerca
Im Wald stehen hüfthohe Erikabüsche. Dachte immer, den Riesenwuchs gäbe es nur am Kilimanscharo. Der Weg ist ausgetreten wie eine Panzerspur, die Pilger flüchten sich unter die Kiefern, um ihre Regensachen anzuziehen, mit ihren grünen Überwürfen auf den Rucksäcken sehen sie lustig aus wie kleine gebückte Plastiksaurier.

In St. Juan de Ortega bin ich lange in der Kirche: Der neue Atem des Katholizismus: Statt hölzerner Kniebänke gibt es Kissen, statt barock verdrehter Holzfiguren, menschlich gemalte Ikonen, Kerzen nicht im Blechkasten sondern in einer hübschen Sandschale.

Ich bete in der Kirche, und Gott ist heute zu Scherzen aufgelegt. Das Handy tutet. „Just-Be-lieve hat Ihnen eine Nachricht geschickt.“, steht auf dem Display. Es ist eines der beiden deutsche Mädchen, das mir ein Bild aus Roncevalles schickte, als ich in Roncevalles die Hühner fütterte.

Lange war ich in der Kirche, noch länger in der Kneipe. Ausgelaugt von den Ereignissen in Villafranca. Die bieden Israelinnen haben mich eingeholt, „Du schaust fertig aus!“ „Ja, bin ich.“ Die Neuseeländerin bemitleidet mich, ich sähe müde aus, sagt sie, müde ja, und du hast gar nicht geschnarcht, sagt sie. Für Schnarchen habe glaub einfach zuviel Körpergewicht verloren inzwischen, außerdem keinen Alkohol getrunken. Ich kann noch nicht weiter. Nicht so, nicht ohne diese Worte geschrieben zu haben. Nicht ohne den Weg wieder gefunden zu haben.

Endlich habe ich auch das Wort, das mir die Situation klar macht, und mir einen Weg eröffnet, wie damit umgehen. Ausgelaugt, der Weg hat mich ausgelaugt, gedanklich schließe ich mit Villafranca ab.

Das also ist Pilgern: Ein Wort und ein Weg.

Ich glaube, ich gehe heute nicht nach Burgos. Zuviele Rosen.

Allerdings sind es nicht immer die Rosen, die einen aufhalten, manchmal auch die Blasen: Also werde ich den Schatz der englischen Sprache um eine Sentenz bereichern: On the way you have to smell the feet.

(Das vermaldedeite Apple Pages ist garantiert auch von einem Briten konstruiert worden. Macht aus feet immer fleet. Weiß jemand, wie man dem Mistding, die ständige automatische Wortkorrektur argwöhnen kann? )

Ich lerne das Wort der „Camino-Familie“. Sehr zutreffend. Man trifft ständig die gleichen Leute und die gleichen Leute erzählen sich von den ständig gleichen Leuten, die sie getroffen haben immer die gleichen Dinge. Ich erfahre, dass ich auch schon zu den Menschen gehöre, über die man spricht, „ach, Du bist der Stuttgarter Reisejournalist mit dem Klapprad?“ „Nein, der mit den Ringelsocken“, „Ja, hab von dir gehört.“ Das interessante ist, wenn man schneller geht oder Ruhetage macht, verlässt man seine Camino-Familie und wird dann automatisch Teil einer neuen.

Ich wandere weiter durch die Oca-Berge bis nach Ages. Ein malerischer Ort, den mein Reiseführer in den höchsten Tönen lobt. Schon allein deswegen ein Grund, weiter zu ziehen. Aber es ist auch etwas anderes. Drei Gewitterfronten haben mich auf der Passhöhe eingekreist. Ein Ausblick in blauschwarze Wolkentürme, vor denen sich die letzten Schönwetterwolken flüchten wie eine Schar Gänse. Ich muss das einfach im Freien erleben, genießen. Ein Eichtentor erscheint, zwei große Stämme recken ihre Äste in den beständigen Wind. Jetzt reicht es langsam, holen mich denn alle meine Geschichten wieder ein? K. rät am Telefon, mit der Hexe ein Bier zu trinken und rauszufinden, auf welcher Seite des Tores die Wirklichkeit liegt. Ich vermute mal auf keiner der beiden Seiten und ziehe weiter nach Atapuerta, das für irgendwelche Urmenschen berühmt ist. Ein paar von ihnen haben ein Restaurant aufgemacht, in der die Essensgäste mit Service überhäuft werden, während wir arme Pilger nicht mal ein Bier an der Bar kriegen. Die beiden Israelinnen sind da und berichten, das Dort sei ausgebucht. Sie wollen zur nächsten Herberge trampen. Nachdem die Schwalben schon so tief fliegen, dass ihre Schnäbel Furchen in den Asphalt kratzen, und der Regenvorhang deutlich unter den Wolken zu erkennen ist, rate ich ihnen, es sei besser hierzubleiben. Sie gehen in den Regen hinaus. Mutig, Auch wenn es nichts zu trinken gibt, kann ich wenigstens den gröbsten Regen im Eingang der Neandertalerhöhle abwarten.

Das Eichentor
 Ich beschließe, innerlich noch sechs Kilometer bis ins nächste Dorf zu pilgern, ich würde es dann um 20 Uhr oder 21 Uhr erreichen. Was macht ein Pilger, wenn es regnet? Bei Regen pilgern. Und wenn er in die Nacht kommt? Bei Nacht pilgern. Ich finde dorfabwärts eine krummen Kneipe mit lustigem Steinturm. Dort setze ich mich erstmal an die Bar und lasse mich mit Hardrock volldröhnen. Ein spanisches Pärchen stapft Treppen hoch, und es gibt doch nicht etwa? „Doch“, sagt die nietenbesetzte Barmaid. Für 15 Euro bekomme ich ein schnuckliges Einzelzimmer.

Die zwei Pilgerinnen am Nebentisch gesellen sich mit an die Bar und wir trinken eins, dann kommt eine Stuttgarter PiIgerin rein und gesellt sich an die Bar und wir trinken noch eins. Was macht ein Pilger, wenn es Bier gibt? Weitertrinken.

Ein junger Kerl mit verträumten Augen geht in den Regen hinaus, um sich zwei Bäume zu suchen, für seine Hängematte, er hat wohl auch einen Regenschutz dabei. Ich sehe ihm hinterher, ziemlich sicher war ich auch mal so ein verträumter Junge, und ich werde den nächsten Tag drüber nachdenken, was einen verträumten Jungen zu einem Mann macht und wahrscheinlich sind es auch diese Nächte zwischen zwei Bäumen.

 

29.05

Atapuerta – Burgos

 

ne flotte Biene, diese Orchidee
Die seltenste Blume des Universums ist vielleicht doch nicht so selten: Sehe wieder zwei davon, Orchideen mit gelben Blütenblättern, die eine Biene imitieren. Scheint sich auf Kalkwiesen wohl zu fühlen. Blühende Weiden säumen den Weg über die Berge nach Burgos. Regen erwischt mich gerade auf der Passhöhe, eine glatte leere Fläche mit ein paar Baumgruppen, wie hingesetzt, um die Leere fühlbar zu machen. Ein hohes eisernes Kreuz markiert die Höhe, muss an ein Wort meiner Oma denken: Leg die Dinge unter das Kreuz, da hat es viel Platz.

Die Passhöhe vor Burgos
Wandere durch den Industriegürtel von Burgos. Auch hier leerstehende Trabantenhäuser, die Ruinen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Ich bin durch Dörfer gekommen, die Trabantensiedlingen hatten, dreimal so groß wie der Ortskern und die komplett leerzustehen schienen, wo einsam ein Mann auf einem Traktor saß und den Rasen der unbenutzten Parks in Schuss hielt.

Ich folge der vierspurigen Straße stadteinwärts. Hin und wieder Nieselregen, 15 Grad, die stille, wohltuende Melancholie eines Industriegebietes am Sonntag. Ein Falke steht in der Luft, ich raste an einem gigantischen Kreisverkehr entlang der Nationalstraße, wo irgendein Spaßvogel eine graffitiverschmierte Bank geparkt hat. Man sieht noch Reste eines Gehwegs und eine alte Straße. Schlage meine Zähne in das warme weiche Fleisch einer blutjungen Salami. Noch 7 Kilometer bis zur Kathedrale. Ein Gewitter zieht vorbei, dass ich unter einer Autobahnbrücken abwarte.

Noch nie habe ich vom Burnout der Liebe gehört aber vom Camino del Amor. Ziemlich schwierig jetzt in den Vorstädten, aber pilgern heißt ja, das Schlechte mit dem Guten zu nehmen. Trotzdem habe ich einen Groll gegen die Pilger, die sich mit den Autos durch die Vorstädte kutschieren lassen, und einem dann noch den Platz in der Herberge wegnehmen.

Die Alberge in Burgos ist genau neben der Kathedrale und ungefähr seit 14 Uhr belegt. Ein ein einfach gekleideter alter Mann mit einem abgerissenen Fahrrad lehnt an der Tür, ob ich ein Zimmer bräuchte? Ich bin zu müde, um lange zu überlegen und folge ihm gemächlich, als er mich zu einer Herbege schleppt, und dort abliefert.

Frage den Rezeptionisten, der einen schwarzen Anzug trägt, ob der alte Mann für ihn arbeiten würde:
„No“, sagt der Rezeptionist „I work for him.“
Dem Mann würden die Hälfte aller Hotels hier in der Gegend gehören. Ich lerne:
Das Privileg der Reichen ist es, keine Anzüge tragen zu müssen.
30.05.

Burgos Atempause.

Behalte das Zimmer drei Tage. Das ist jetzt Urlaub vom Camino. Privatsphäre, keine Pilger, die um sechs Uhr mit den Tüten rascheln, das Licht anmachen, oder sich lautstark unterhalten, die im Schlaf wandeln, schreien, furzen, oder schnarchen. Burgos ist sicherlich die schönste Stadt auf dem Wege, lockt mit Museen und Galerien, für die ich keine Zeit habe: Brille reparieren, dann doch die schweren Bergstiefel wegschicken. Kostet 40 Euro. Dafür kann ich den Camino mit zwei Kilo weniger angehen, zum Friseur muss ich, und mich vom Weg erholen.

Ich schreibe ein paar Szenen für den Hexenmeister, unternehme erst gar nicht den Versuch, die Kathedrale in Worte zu fassen, diese weiße Stadt Gottes, mit ihren Prozessionen von Türmen, mit Heerscharen von Figuren. Von wegen im MIttelalter hätte es keine Freiplastik gegeben, in Burgos ist alles voll davon, auf den Galerien, Türmen, Bögen stehen Reiter, Könige, Engel wie die Männlein einer Spielzeugeisenbahn! Ich sitze einfach ein zwei Stunden auf dem Platz und schaue.
Entdeckte, dass die Augen Vegetarier sind: Denn man kann die Augen weiden, bis sie sich statt gesehen haben. Die Ohren dagegen sind offensichtlich Allesfresser, weil sie beim Ohrenschmauß nicht unterscheiden. Der Geschmacksinn ist ein Hedonist, denn er sucht die Gaumenfreuden, während der Tastsinn, und damit wohl mein Liebling, der reinste Patoniker ist: Er will nur das Gute, sich Wohl-fühlen. Flugs einen kleinen Aufsatz zur Metaphorik der Sinne geschrieben.

Von meinen rotweißen Ringelsocken angelockt, kommen Österreicher an den Tisch, die mich aus Erzählungen anderer Pilger schon kennen. Sie berichten von einer Bettwanze in Atapuerta und eine arme Frau hatte das Quartier deswegen fluchtartig verlassen und war von fünf Uhr an losgezogen. Ich halte Ihnen im Gegenzug einen kunstgeschichtlichen Vortrag über die Kathedrale, den ich noch mit der Lebensgeschichte von Christoph Columbus aufpeppe sowie dem Aufstieg Spaniens zur Weltmacht, der sie dermaßen beeindruckt, das sie vergessen, einen Teil ihrer Getränke zu bezahlen. Der bleibt dann an mir hängen. Der Preis der Eitelkeit. Immerhin weiß ich jetzt, wie eine Bettwanze aussieht.

„du siehst müde aus“, sagen die beiden deutschen Mädchen, jetzt auch in Burgos sind. Die jüngere ist 20 Kilometer in Badelatschen gelatscht, wegen der Blasen. Überhaupt, echte Kämpfernaturen unter den Pilgern. In Logrono habe ich einen Gelähmten gesehen, der den Weg mit Krücken macht.

Abends rollt ein junges Paar durch das Stadttor, das von Holland losgezogen ist, mit einem Joggingkinderwagen, in dem ihr einjähriges Kind sitzt.

Die Kathedrale von Burgos

31.5

Immer noch in Burgos, nachdem ich nun schon zum zweitenmal im selben Café sitze, fällt auf, dass genau die gleichen Leute zur gleichen Zeit drinsitzen wie gestern und dabei auch noch das gleiche mache. Der junge Mann liest Zeitung, löblich, die alte Frau spielt mit dem Handy, läßlich.

Der Spanier ist also ein Gewohnheitstier, der im immer gleichen Café frühstückt.
Aus vorhandenem Witzmaterial schnell einen Witz gebastelt: Ein Journalist und ein Physiker und ein Mathematiker sehen aus dem Zugfenster in Schottland ein schwarzes Schaf. Der Journalist: „Guckt mal, in Schottland sind alle Schafe schwarz.“ Der Physiker: „Mein Freund, richtig ist, in Schottland gibt es einige Schafe, die schwarz sind.“ Der Mathematiker mit einem Seufzen: „Aber meine lieben Reisebegleiter, in Schottland gibt es genau ein Schaf A, dessen eine Seite s schwarz ist.“

Vielleicht doch in ein Museum? Erst mal nen Kaffee.

Mein Jakobsweg, mi camino, Teil 13

20.5 Pamplona.

Nichts ist so ungerecht verteilt, wie der Speck an den Hüften der Frauen. Was die eine zuviel hat, hat die andere zuwenig. Man merkt, die Spanierinnen tragen gerne figurbetont, wobei ihnen die Figur herzlich egal ist. Sehr sympathisch. So sympathisch wie ganz Pamplona, wohl die schönste, Stadt, die ich bisher traf, nicht von den Kirchen und Häusern, aber von den Verrückten, Anarchos, Kneipengängern, die gegen 11 einfach auf der Straße sitzen und sich betrinken, den Kindern, die das alte Topfen Spiel spielen mit Kreisel und Peitsche, den Pizzas für 2 Euro, dem Hemingway-Döner. Sympathisch wegen dem Café Iruna, wo Hemingway schrieb, was man sich kaum vorstellen kann, angesichts des Geräuschpegels, der die 150 Jahren alten Spiegel, Lüster, Säulen erzittern lässt: Tassen werden nicht auf den Tisch gestellt sondern geknallt, Scherzworte werden sich nicht zugerufen sondern gebrüllt, man unterhält sich nicht, sondern schreit sich so lange an, bis der andere zurückschreit, und ganz oben auf dieser Monsterschallwelle dümpelt mein Gemüt mit dem IPad und segelt gegen die Sätze.

Er wollte noch in die Bar für ein paar Martinis, es wäre aber nicht gut gewesen, denn sie hatten nur Döner.

Auf dem Platz indessen spielt eine Gruppe von drei Jungs Indie-Pop auf Spanisch, The Mixed, oder wie sie heißen und wird zum Dank dafür von übermütigen Gören mit Gummipfeilen beschossen, Der ganze Platz ist voll von Flanierern, ich warte, bis es Abend ist, und stecke mir die Havanna an, die ich in St. Jean nicht rauchen wollte, weil es da nicht gut gewesen wäre.

Weinsteins Relativitätstheorie

21. 5
Pamplona – Puente La Reina

Da bin ich gestanden vor 25 Jahren. Dort habe ich in das Land geblickt, das mir fremd und offen erschien. Heute wie damals bin ich aus Pamplona herausgegangen und die erste große Anhöhe erklommen, die Alto del Perdon, die Höhe des Vergebens. Damals habe ich Jacques getroffen, der mit 75 damals den Weg gegangen ist. Es gibt keine richtige Erinnerung mehr an meinen ersten Camino, es gibt nur einen schwachen Eindruck und manchmal das Aufblitzen einer unsichtbaren Fotographie, das eine Gefühl erzeugt wie, damals bist du dort rechts oder links abgebogen.

Ich sehe nach Westen. Ich schaue in das schwere von Horizont getränkte Land, da hinten irgendwo ist mein Ziel, wo über dem Dunst Wolken schwimmen, über Schachbretter von Wald und Feldern. Über das Land legen sich helle fast glitzernde Straßenschnüre, daneben von Korkeichen und Niederwald wie mit Cordsamt besetzten Berge. Das Land brandet heran, Wellen eines grünschwarzen Ozeans, dessen Spitzen sich im Wind brechen wie dunkles Flaschenglas.

Hier bin ich gestanden vor 25 Jahren. Jetzt ist die Hügelkette von Windrädern besetzt,
Die Mühlen stampften wie Motoren von Schiffen. Ich raste im Schatten der Giganten. Don Quijote hat heute Pause. Im Rücken das Metall der Masten, wie Schornsteine eines Ozeandampfers, der Wind reißt und zerrt, fährt unter die Haut und das T-Shirt, ich bin plötzlich weit eintfernt. Der Sturm lässt die Gräser zittern, aber wenn man genau hinschaut, zittern sie nicht, sondern schieben und heben sie sich.

Damals waren wir zu dritt, Jacques, seine Tochter und ich. Jetzt, sind es 300 Pilger, ein Kunstwerk auf Blechfiguren krönt die Höhe, eine Frau verkauft Zeugs aus einen Anhänger.

Zeit für Sentenzen: Man steigt niemals in denselben Fluss, aber immer in die gleichen Unterhosen.

Auf dem Weg abwärts steht die Sonne, Die Wärme hat sich auf den Felsen zusammengerollt wie eine Katze. Korkeichen, Rosmarin, Blumen, ich habe immer noch das Gefühl, mein T-Shirt würde nach Katzenpisse stinken, könnte eigentlich Rosmarinzweige in die Wäsche legen.

Jetzt ist der Camino wie damals vor 25 Jahren, heiß staubig, ich atme nur noch durch die Nase, meine Lippen zwei trockene Schnüre. In Uterga ist die Punkerin ist wieder da: Ganz in schwarzgrau, zerrissene Strumpfosen, Minirock, schwarzer BH, Kappe, zwei schwarzsilberne Ringe durch die Unterlippe. Sie hat sich mit ihrem Freund zerstritten, ist in Uterga auf ein harmloses Dorffest geprallt und säuft sich durch, während ihre Oberweite in der Sonne brät.

Staub weht mich nach. Abendessen im Freien, endlich ist es warm genug, draußen zu sitzen, die Schwalben turteln vor Gewitterwolken, hoch fliegen sie, und kümmern sich nicht. Der Abend zieht die Wolkenvohänge zu, endlich schlafen.

Auf der Höhe der Vergebung

22.05

Puente la Reina – Villatuerta

Das ist der symbolische Moment, hier in Puente La Reina laufen die vier französischen PIlgerwege zusammen und vereinigen sich auf der Brücke zum Camino Frances, dem Weg der Franken. Die romanische Brücke hat, seit dem ich sie zum letzten Mal gesehen hab, einen Brückenbogen mehr bekommen, den Archäologen aus dem Ufer gegraben haben. Ein ganz luftiges leichtes Bauwerk, das den Fluss überspannt und mich weiter in den Regen führt.Auf dem Kirchturm wachsen allerlei grüne Pflanzen, ein Storch hütet die Glocken, die von mächtigen Balken herabtropfen.

Die Brücke von Puente la Reina, wo sich die vier grossen Pilgerwege vereinen.

Die Italiener haben in der Herberge nicht nur die ganze Nacht gelärmt, sondern auch gleich früh am Morgen. Wo sind die liebenswerten zurückhaltenden Franzosen geblieben, die ich so vermisse.?

„He mir gefallen deine Socken“, ruft mir die Punkerin am Kirchplatz: Sie hat ihren Freund wieder und eine Literflasche Bier leer. Anscheinend gibt es eine Figur in Wimmelbildern mit rotweißen Socken, namens Walter. Daher die rege Anteilnahme der Bevölkerung an meinem An- und Aufzug.

Diesmal gebe ich dem Bettler an der Kirche nur Kleingeld: Aber schon lohnt es sich. Ich weiß nicht mehr welchen Wochentag wir haben und merke so, dass in der Kirche eine Messe ist. Drinnen singen blau gewandete Ordensschwestern Choräle, die wie wie italienische Volkslieder klingen, zwar im Dur-System, aber seltsam verzerrt und kernig.

Eine Gewitterfront überrollt mich eine halbe Stunde vor dem nächsten Dorf. Als ich endlich einen Unterschlupf erreiche, ist das Gewitter beinahe vorbei. Aber ich bin ziemlich durchgeweicht. Meinen Regenschirm bricht es vollends die Gräten. Wie gerupfte Vögel sitzen die Pilger unter den Arkaden des Dorfplatzes von Caraqui. (Oder so). Ein Bayer ist dabei, massig, braune, schulterlange Haare, Schlösser von Beruf, macht esoterische Lebensberatung und hat alles aufgegeben, um so lange herumzureisen, bis ihm das Geld ausgeht. Ich bewundere diesen Mut. In seiner Trinkflasche scheppert es. Meteorstein tut er kund, der hat viel Energie. „Kosmische Energie vermute ich?“

„Ja“, meint er, ich deute auf meine Trinkflasche, in die ich einen LIter Rotwein gegossen habe, „da ist auch Energie drin.“ Auch die beiden Punker sind da und warten auf besseres Wetter. Sie haben ihr Zelt vergessen. Das muss man auch erst mal schaffen, aber war wohl wegen des Streites.
Erinnert mich an einen meinen Lieblinsgwitze: Sherlock Holmes und Watson zelten. Sie wachen nachts auf, unter einem gigantischen sternenübersähten Himmel.
„Wissen Sie, was ich denke, Watson?“, fragt Sherlock.
„Well“, sagt Watson, „ich nehme an, sie denken angesichts dieser Pracht, dieser Größe des Universums, dieser leuchtenden Spuren der Unendlichkeit an die Kleinheit und Begrenztheit unseres Menschenleben.“
„Nein Watson, ich denke, jemand hat uns unser Zelt geklaut.“

Ich tropfe eine Bar voll. Dem Regenwetter geschuldet, wechselt die aufgeweichte Pilgerin am Nachbartisch ihre Oberwäsche — Mist, wo ist bloß meine Brille?

Eine ältere Amerikanerin kommt rein, den Tränen nahe, sie hat ihr Handy im Regen verloren, jetzt kann sie ihre Freunde nicht mehr erreichen, die schon weitergewandert sind. Weil sie weder ihre Google Passwörter noch irgendeine Telefnnummer auswendig kennt, kann sie auch niemanden kontaktieren, als ich ihr IPad und Telefon zur Verfügung stelle. Mein Telefon streikt, als sie damit versucht, ihren Mann in Ohio anzurufen. Wer lässt eigentlich diese Horde von untüchtigen alten Schachteln auf den Weg, deren einzige Fähigkeit darin besteht, sich in Schwierigkeiten zu bringen? Flugs, PIlgerkurse angeboten und damit ein Vermögen verdient. Jaaaa, das ist das lang ersehnte Geschäft mit der Angst: Nur Dr. Stoltes PIlgerkurse schützen vor Schlangenbiss, Gewitterschäden, Knochenbrüchen, tödlichen Stürzen im Gebirge, mordlustigen Herbergsvatern und Durchfall.

Immerhin können wir die Geschäftsadresse ihrer Freundin ausfindig machen, und mal eine E-Mail schicken. Inzwischen wirbelt eine Erstkommunion in die Kneipe, in der es bald nicht mal mehr einen Stehplatz gibt, um mich herum tanzen Stimmen, Fotoapparate, puppige Mädchen in weißen Kleidchen, Jungs mit Fußbällen, alte Männer brüllen eine Spanisch, das nicht einmal mehr nicht-indogermanisch ist. Meine Wanderstöcke werden mir einfach von vielen Händen durch die Kneipe gereicht, weil kein Durchkommen mehr ist.

Auf der Straße treffe ich eine weitere Amerikanerin. Da ich annehmen kann, dass ihr Telefon auf USA gepolt ist, spanne ich die beiden alten Damen zu sammeln und lasse sie allein.

Es ist spät geworden und die nächste Gewitterfront zieht auf. Alle halbe Stunde wechsele ich die Socken und lasse sie am Rucksack trocknen, um so die Feuchtigkeit aus den Schuhen zu ziehen, geht aber nicht ganz. Nasse Füße machen einen langsam, dann schaffe ich es tatsächlich mich zu verlaufen, weil ich mit Töchterlein telefoniere und nicht auf die gelben Pfeile achte. Und dann merke ich, es ist genug. Die Unterkunft in Valletuerta wird von meinem Wanderführer zwar als viel zu teuer beschimpft, ist aber schnucklig und gemütlich. Ein etwas rätselhafter Typ, der an einer Krücke geht, schnarcht so laut, dass die Wände wackeln, ich werde wütend, stehe auf und trete ihm kräftig ans Schienbein.

Dann ist Ruhe.

23.5
Villatuerta – Los Arcos

Ein kühler frischer Morgen, die Gewitter sind nach Osten abgebogen, die Wiesen sind feucht und schwer, das Herz klar und leicht. Ich wandere nach Estella, diese Kirche erkenne wieder:

In der Kirche von Estella kopierte sie Steinmetzzeichen

Das Kirchenschiff schob sich auf den Felsen wie ein gestrandeter Tanker. Groß hoben sich zwei weiße und graue Türme, ich schleppte den Rucksack die Stufen hoch, und blickte nach unten auf ein romanischer Stadtpalais. Mit hochgezogene Bögen wie die Brauen eines erstaunten Menschen, blickte das Gebäude zu mir auf. Der Eingang zur Kirche war eine felsige Höhle aus Figuren und Zacken, ich öffnete die Tür, trat ein. Die Königin verschwand unter einem flachen steinernen Bogen, der das Hauptgewölbe trug. Jetzt schwankte das ganze Kirchenschiff, die Gurtbögen, die Bündelpfeiler rollten auf mich zu. Ich versuchte Klarheit, Standpunkt zu gewinnen, aber es ging nicht. Draußen rissen die Wolken auf, die Kirchenfenster blitzten. Blau leuchtete beruhigend, Rot versprach Wärme, Maria im Fenster, die Heiligenscheine zündeten durch. Ich konnte noch immer nicht weiter, so unruhig war das steinerne Meer um mich, ich hatte das Gefühl, die Kirchenbögen würden sich unter mir wegdrehen, kam wie ein Holzfäller vor, der auf einem Baumstamm im Wasser tanzte. Jetzt rollten die Fenster auf mich zu. Die Bogen setzten sich allesamt in eine Richtung in Bewegung wie ein steinerens Uhrwerk, das mich über die Rücken seiner Räder zog, während ich die Bogen aufwärts um mein Leben rannte, um nicht zerquetscht zu werden. Ich schloss die Augen und versuchte die Vision abzuschütteln. Die Königin war verschwunden, ihr königlicher Gang aber schien noch da zu sein, eine Spur, die sich vor meinen Augen durch das Kirchenschiff zog und langsam abbröckelte. Ich hielt mich an der Wand fest, als ich die Treppen hinabstieg nach unten und nach Westen, wo sich ein kleines Stadttor des neuen Estella öffnete und der Pfad sich nach oben zog in die Berge.

Okay, das war eine kleine Stilübung für den „Hexenmeister von Villafranca.“

Dennoch: Hier traf ich vor 25 Jahren Julia, als sie Steinmetzzeichen kopierte. Ich bin mir ganz sicher.

Am Maurenbrunnen in Villamayor raste ich wie vor 25 Jahren. Zwei Spitzbögen mit Arkaden, die Kapitelle sind mit Weintrauben verziert, das ist das maurische dran. Eine Treppe führt in einen kühlen Teich, unter dessen Spiegel ein Viereck erkennbar ist, wohl die alte Brunnenschale. Lasse lange das Gebäude auf mich wirken.

Damals war das Maurische spannend, geheimnisvoll, groß. Man suchte nach seinen Spuren und freute sich, wenn man sie fand. Es war Sehnsucht nach Exotik und die Ahnung einer großen Kultur. Und heute? Was ist bloß aus uns geworden?

Der Maurenbrunnen bei Villamayor

Das Land wird kuppiger jetzt und scharf geschnitten, Kiefern reihen sich auf den gezackten Hügelkämmen wie Indianer vor einem Überfall. Die Indianer haben Zypressen vorgeschickt, die neugierig die dürren Köpfe heben und schauen, wer da vorbeikeucht vor braun gemähten Feldern und stoppeligen Äckern. Erstes Gelb arbeitet sich durch das Grün von Büschen und Weizen, das Jahr schreitet vor.

Sumpfgräser wedeln wichtig, wilder Knoblauch wirft bunte Blumenbälle empor, eine Schafherde versickert in in einer Talsenke, wolliger Flaum, der sich in Kiefernschatten absetzt. Und immer wieder blutleuchtend – Mohn.

„Komm mit, komm-mit“ zwitschern die Vögl in Eichendorffs Taugenichts. Aber hier zwitschern die Vögel spanisch: „Mi-re, mi-re, mi-re!“ – „Schau, schau, schau!“, sagen sie. „schau, wie schön es hier ist!“

Der Wind treibt Duft von wildem Dill und Rosmarin her. Sturzseen aus Weizen fluten das Tal. Es ist heiß jetzt, ich komme kaum voran, die Pilger wandern tapfer. Ein junges Paar aus dem Osten, eine Italienierin mit blasenübersähten Füßen. Es gibt hier zwölf Kilometer kein Wasser, aber die Spanier wissen den Pilgern zu helfen und haben eine fahrbare Bar aufgebaut.

„Bist du aus Vorderösterreich?“, werde ich in der Casa Austriaca in Los Arcos gefragt: Ein würdiger Mann, einst Schulleiter und Bürgermeister kümmert sich um die Pilger, den Damen trägt er den Rucksack nach oben. Wenn er die Pilgergruppen fotografieren muss, sagt er: „Haltung, meine Herrn“. Natürlich bin ich Württemberger, aber Vorderösterreich fing ja gleich bei Tübingen an, vielleicht waren das meine rotweiß gestreiften Ringelsocken, die ihn an Österreich denken ließen. Auf dem Kirchplatz trifft sich die Pilgerei beim Abendessen. Ein New Yorker aus New Jersey unterhält den Tisch. Er trägt ein schweres genetisches Erbe, denn er ist halb Ire halb Italiener, und säuft also genauso viel Wein wie Bier. Den Kopf hat er unter eine graue Schiebermütze verräumt, weite Flächen von geplatzte Äderchen sind an den Backen, von Beruf fährt er Diesel zu Tankstellen. Er spricht einen dunklen sizilianischen Dialekt und erzählt vom Wein auf Sizilien, der so stark sei, dass man für die Damen, die weniger vertrügen, einen besonderen Wein gemacht habe namens Aquata. Die Trauben nochmal eingemaischt und drei Tage lang gerührt, daraus einen leichten Wein erzeugt mit zehn Prozent Alkohol. „Das war eine Menge Arbeit“, seufzt er, „aber“, sagt er und bringt damit die letzten 5000 Jahre Geschlechterkampf auf einen richtigen Punkt: „If they are happy, we are happy.“

Den Abend mit einem belgischen Professor für theoretische Physik verbracht. Und einer Flasche Wein, die ich eigentlich morgen alleine trinken wollte. Zu zweit macht es mehr Spaß. Wir reden über Raumpatrouille, Raumschiff Orion, und schmachten gemeinsam Eva Pflug an, die ich auf das IPad zaubere. Er sucht eine alte Fernsehshow mit den Kessler-Zwillingen als Deko auf einer Brücke, in der ein Regenschirm zu Überblendungen benutzt wurde. Kennt die jemand?

Der Dorfplatz von Los Arcos

24.05

Los Arcos – Logrono
Menschen: Ich weiß genau, was der portugiesische Comic-Zeichner jetzt denkt: Ich sehe es an seinen geweiteten Augen, und vermutlich weiß der Portugiese, was ich gleich einen fahrigen italienischen Pilger fragen werde. Denn der hat sich gerade aus dem Rucksack eine Motorradlederjacke geholt und zieht sie über, weil es ihn friert. Doch der Portugiese kommt mir zuvor. „Wie warum zum Henker nimmst Du eine so Motorradjacke mit?“ „Na weil sie bequem ist“, sagt der Italiener.

Das war in der Gegend um Pamplona, bei Zubiri. Wir füttern wieder Hühner. Der Portugiese erklärt, dass Portugiesisch und Spanisch sehr ähnlich seien. Beispielsweise heißt „Danke“ auf Spanisch: „Gracias“ und auf Portugiesisch: „Obrigado“ „Sehr ähnlich“, scherze ich. Der Portugiese will wissen, was „bitte – danke“ auf Italienisch heißt: „Grazie – Prego“, erzählt die Motorradjacke. Im Portugiesischen bedeutet Prego „Sandwich“, und wir finden es lustig, auf „Danke“ mit dem Wort „Sandwich“ zu antworten. „Grazie – Sandwich“. Eingedeutscht klingt es noch besser: Also Danke für das Lesen dieser Zeilen – „Wurstbrot“.
Nun aber zurück auf den Weg:

Gönnte mir morgens einen Cognac zum Café und obwohl ich durch die paar Drinks in Frankreich nicht zum Kenner geworden bin, weiß ich, dass man mit diesem Hennessy-Zeug höchstens die Fenster putzen kann. In Torre del Rios, oder war das Rios del Torre, steht eine kleine achteckige Grabeskirche, die wohl mal den Templern gehört hatte. Eine Frau schnauzt herum, ich soll einen Euro Eintritt zahlen. Ich wisse das, erkläre ich ihr kühl. Und lasse sie noch ein bisschen warten. Die Kirche allerdings ist fulminant, reich mit Figuren und Inschriften geschmückt, wunderbar in einandergreifenden Gurtbögen, die ein erst verwirrendes und dann plötzlich harmonisches Muster geben.

Ziemlich zackig der Rundbau

„You are my savior“, die ältere Frau fällt mir um den Hals. Mitten in Viana vor der Kirche. Ich deute auf das Portal: There is your savior, sage ich. Es ist Lisa, die ich in Ciraqui (oder so ähnlich) aufgelesen hatte, und die ihr Handy verlor und völlig verzweifelt war. Sie bedankt sich überschwänglich, dass ich ihr Mut zugesprochen hatte, E-Mails verschickte und sie davon überzeugte, dass das alles nicht so schlimm sei. Das hat sie aufgefangen. Es kommt aber noch besser. Jemand hatte das Handy gefunden und bei der Polizei abgegeben. Jetzt hat sie es wieder und ist überglücklich. Sie zahlt mir ein Bier glücklich, dass alle ihre Befürchtungen falsch waren, und auch die ihrer Reisebegleiter, die geglaubt hatten, die ETA hätte sie gekidnappt. Die meisten Menschen sind nett, hat sie jetzt gelernt, ich bestätige sie. Nur manchmal verliert man den Blick dafür. Ich sage ihr, dort wo meine Zeitung erscheint, hätten wir vielleicht einmal im Jahr einen Mord. Und das bei einer halben Million Menschen! Ich sage ihr, wenn du jemandem etwas Gutes tust, dann darfst du nicht erwarten, dass er dir wieder einen Gefallen tut. Sondern du musst in großen Kreisen denken, denn es wird so sein, dass Dir wieder jemand ganz anderes hilft. Hätte ich vielleicht nicht sagen sollen, denn das zweite Bier muss ich jetzt selber zahlen.
Wenn man sich sicher ist, dass das Leben in großen Kreisen verläuft und dass es immer wieder weitergeht und immer Hilfe da ist, dann sollte man das für sich behalten, denn dann ist es Essig damit, ins Geschäft mit der Angst einzusteigen.

1990 war ich der einzige Pilger im Ort und schlief hier im Rathaus-Keller. Heute ist kein Bett mehr frei.

In Viana finde ich das Refgio wieder, wo ich einst geschlafen habe, es war unter den Arkaden des Rathauses im Keller, einfach ein paar Matrazen auf dem Boden und ich bin noch herumgelaufen und habe die prächtige Kirche bewundert, mit einem Vordach aus barock verzierten Balken. Damals 1990 war ich der einzige Pilger im Ort. Jetzt gibt es in Viana kein einziges freies Bett mehr so überpilgert ist es. Also Imuss noch mal um 17 Uhr meinen Rucksack auf die Schulter nehmen, und noch zehn Kilometer nach Logrono. „Uuuuulli!“, brüllte es aus einem Kiefernwäldchen. Die beiden deutschen Mädchen sind wieder da. Sie haben kein Wasser und sind so erschöpft, dass sie schon kichrig werden. Unter ihren Witzen ist eine dünne Schicht von Verzweiflung spürbar. Ein Regenwolke schiebt mich in eine kirchliche Herberge. Die Mädchen ziehen weiter und kommen in der Kirche unter.

Logrono, ich erkenne die leicht gesenkte und gehobene Straße wieder, auf der ich einst marschierte. Bin glücklich darüber, weiß auch nicht genau, und sitze ein bisschen einsam in einem Café und schreibe diese Zeilen.
Um mich aufzuheitern, erfinde ich Worte: Peregrino heißt Pilger und Peregringo für die Neupilger. Und bestelle noch ein Bierchen.

 

Die Kathedrale von Logrono

25.5

Logrono – Najera

Missverständnisse: Mir wird langsam klar, warum ich mich in Roncevalles nicht verständlich machen konnte, als ich das Taxi zur SOS-Station lotsen wollte. Ich hatte „SOS“ gesagt, hätte aber auf spanisch „esse o esse“ sagen müssen. SOS würde ein Spanier als „Eso es“ verstehen, was etwa „so ist es“ bedeutet. Ich hatte das Taxi also zur „So ist es – Station“ beordern wollen. Denke an den Belgier zurück, den zukünftigen Fiat-Vertriebsmann, der meine Ansicht teilte: nie telefonieren, denn 90 Prozent der Kommunikation läuft nicht über das gesprochene Wort. Das Schwierigste ist es, in einer Fremdsprache zu telefonieren, vermutlich weil die Missverständnisse ausräumende Gestikulation fehlt. Eso es.

Am Morgen frage ich nach Frühstück und ernte wieder Unverständigs: Ich hatte hay que (kann ich?) gesagt und nicht Que hay (gibt es?). Ich übe ein bisschen Spanisch mit der Aufwärterin, die sich über meine Socken schieflacht. Manjana heißt morgen und por la manjana am Morgen. Flugs eine Dissertation über indogermanische Missverständnisse geschrieben. Soweit ich es überblicke, unterscheiden viele indogermanische Sprachen nicht zwischen „Mann“ und „Mensch“, „man – man“, „hombre – hombre“ und auch nicht zwischen „am Morgen“ und „Morgen“. Daraus kann man ableiten, dass dem Indogermanen die feinen Unterschiede zu den Frauen herzlich egal waren, und dass nie an morgen dachte.

Indogermanistan, 9 Uhr: „He Indi, Sag mal, wann kommt der Bär vorbei?“
„Morgen“.
„Wann morgen?“
„Jetzt.“
„Aaaargh….“

Ein Frühstück ohne Redundanzen. Zum Kaffee gibt es Weißbrotscheiben. Wenn ich will, kann ich ja Öl drauftun oder Salz, sagt die Aufwärterin. Muss an einen alten Kameraden vom Schachclub Plochingen denken, der erzählte, er hätte die russische Kriegsgefangenschaft nur überlebt, weil ihm die Russen gestattet hätten, Brot in ein Fass mit Pflanzenöl zu tunken. Von Logrono heraus läuft eine asphaltierte Joggingsrecke, die, obwohl ein Wochentag ist, rauf und runter gerannt wird. Ich teck-tocke die Strecke in abgemessenen Schritten und sehe den Spanierinnen beim Schwitzen zu. An einem See ist die Japanerin wieder da, die in Pamplona das Bett gegenüber hatte. Sie schreibt meinen Namen in Japanisch auf, sie haben ja drei Schriftsysteme, ähnlich wie die Äpypter, oder wenn man es genau nimmt, eigentlich genau gleich wie die Ägypter. Spricht kaum Englisch und will zwei Jahre die Welt bereisen, das heißt sie wird zwei Jahre einsam sein. Fragt mich, wo es in Deutschland schön sei. Berchtesgaden? Ein Deutscher ist von Tattoos befallen. Geht wohl nicht mehr weg. Immer das gleich Zeugs auf dem Bizeps: Kreuze, Blumen, chinesische Schriftzeichen.

Warum tätowiert man sich nicht mal den Stadtplan von Erlangen auf! Könnte doch ganz nützlich sein, wenn man mal nach Erlangen kommt.

Die Navarra läuft in langen Wellen von Weizenfeldern aus, kleine Inseln erheben sich darin, auf denen die Dörfer stehen, bergig angeordnet und logisch in einer Kirchturmspitze endend, sie kommen mir vor wie Gralsburgen, unerreichbar schweben sie in ferner Schönheit und wenn man sie erreicht, lösen sich sie in Häuser und Leben auf.
Jetzt geht es in die Rioja, Weinanbaugebiete, hügelig. Logrono ist die Hauptstadt der Provinz.

25 Jahre ist das mit Julia her.

Ich überlege mir ein Gedicht für sie.

„Wo sie ging, verwehten ihre Schritte zu Staub.“

Oder doch lieber anrufen? Nö. Ein echter Minnesänger ruft nicht an.

„Ir vil lieben Frouwen
Lat mih yr Nummern schouwen?“

Da würde der Germanist wieder heftigen Sex vermuten. Erinnert mich an eine Germanstik- Studentin, damals in Tübingen, die eine wirklich deftige Stelle der so genannten niederen Minne, mit den Worten kommentierte, „vielleicht hab ich ja zuviel Freud gelesen — aber man könnte den starken Riegel möglicherweise auch als …“

Ich arbeite mich die Traubenhügel rauf und runter. Raste in Navarete vor der Kirche. Der erste Eindruck in der Kirche dort ist Dunkelheit, dann Dunkelheit und Gold. Dann Erstaunen. Ich bleibe sitzen, eine riesige figurierte Fläche schiebt sich hervor, als würde die Wand lebendig werden, als würde lebendes Gold aus den Wänden wachsen und ich merke, der Eindruck kommt daher, dass sich die Augen mehr und mehr an die Dunkelheit gewöhnen. Heilige in goldenen Nischen auf goldenen Podesten und dann erst sehe ich die gotische Jungfrau mit Broktatmantel, das Jesuskind in kostbarsten Kleidern. Sie ruhen auf einem Altar, der allein aus Blumen zu bestehen scheint und das Gold wuchert und wächst weiter und erste jetzt, als die Augen sich vollständig adaptiert haben, sehe ich, dass die halbe Kirche geschmückt ist mit lauterem Gold!

Die Madonna von Navarete

Das Wetter ist wieder besser und ich versaue mir beim Eincremen die Hose. Ob man mit dem Auftragen von Sonnenmilch auch die Kleidung vor dem Ausbleichen bewahren kann?

Damals hatte Julia die Steinmetzzeichen kopiert:

„Wo sie ging, verwehten ihre Schritte,
Zu Staub.“

Ich sollte das ganze ist Wasser kontrastieren.
„Wo sie ging, verwehten ihre Schritte,
Zu Staub.

Bis dahin, wo die Wasserfälle sind,
Tausend Tropfen, Geliebe,
Worin du dein Wasserzeichen webst.

Ich aber trieb den Fluß mit dem Totholz der Jahre.“

Sollte noch Perlen einbauen, sind eine ideale metaphorische Verbindung aus Wasser und Stein.

„Wo du gingst, verwehten deine Schritte
zu Staub.

Ich aber trieb den Fluß mit dem Totholz der Jahre
Bis dahin, wo die Wasserfälle sind,

Tausend Tropfen, Geliebte,
Worin du dein Wasserzeichen webst.

Und Perlen auf das Ufer rieseln,

Weil du da bist.“

Ist noch nichts, nochmal drüber meditieren.

Der Weg, eine stumpfe Schutthalde, zieht sich entlang der Autostraße nach Burgos. Es ist heiß, die Weinberge geschunden vom maschinellen Anbau, Bodegas protzen im zerstörten Land. Ich schleppe mich Kilometer um Kilometer weiter. Gieße Bier nach, aber es nützt nichts. Trockne die Füße, aber es nützt nichts.

Gesegneter Weinbau in der Rioja.

Dann aber gesegneter Weinbau! Malerische Reben an der Höhe St. Anton, ganz weites Land jetzt. Darin Tafelberge wie dunkle Schutthalden. Vom Glättstein der Zeit verschont erheben sich dahinter sanft gehobene Massive. In den Oca-Bergen liegt Schnee. Ich sollte niederknieen vor dieser landschaftlichen Schönheit, also raste ich im Schatten einer Korkeiche, ein Weinbauer mäht Brombeeren. Noch zwei Tage bis Villafranca, aber die Hexe ist schon da: Eine Frau hat nicht viel mehr an als ein T-Shirt, dass sie sich über den Kopf gezogen hat. Sie sonnt sich auf einem weithinsichtbaren Stein, so als würde sie warten. Ich weiß plötzlich, dass es die Italienierin ist.

So hatte auch damals B. auch auf mich gewartet. Ob der Hexenmeister noch lebt? Ich hab ihn schon einmal besiegt. Sollte auch diesen Roman endlich glatt ziehen. A. aus M. kommt mir in den Sinn. Die letzte der denkenden Frauen, die ich traf. Hab dir viel zu verdanken, weiße und schwarze Magie der Momente.

Kleiner Einschub: die ganzen New-Age-Goldhamster glauben ja, dass Hexe mit dem Wort Hecke verwandt ist. In Dr. Stoltes kleiner Wortapotheke wird das Wort Hexe aus gotisch „hugjan“ gemixt, wie auch der Rabe Odins „Hugin“ heißt, der Denkende, wie auch der Vorname „Hugo“, der Denkende bedeutet. Im Deutschen steckt das Gotische hugjan nur noch in „aushecken“, etwas (böses) planen. Denkende Frauen also.

(Solche Frauen gibt es und die Russin nebenan, die ins Handy bellt. Frage mich, warum die abgetakelte Stalinorgel das Telefongespräch abbricht, sobald sie keinen Empfang mehr hat. Sie lässt ihre Gesprächspartnerin eh nicht zu Wort kommen.)

Gegen 20 Uhr falle ich in die erste offene Herberge von Najera. Will noch in die Altstadt, komme aber vor Erschöpfung nur in den ersten Supermarkt, dort schenke ich mir ein Spider-Man-Überraschungsei. Trinke Wein und lasse mir von den Koreanern beibringen, wie Guten Tag auf Koreanisch heißt: Anjong Haseu oder so ähnlich. Weil ich eine ganze Packung Nudeln gekocht habe, mache ich mit dem Schweizer Messer den Deckel meines Monster- Energie-Drinks weg und stopfe die übrigen Nudeln rein, als Wegzehrung morgen.

Praktische Transportbox für Makkaroni

26.5

Najera – St. Domingo de La Calzada
Raus aus der Rioja, rein in die Provinz von Burgos. Ich tausche Wein gegen Korn.
Najera liegt an geriffelten Felsen, erst am Morgen komme ich in die winklige Altstadt, bevor es einen langen Anstieg hochgeht, der eine Aussicht auf Aussicht verspricht.

Ruhiges Gehen im Roggenduft, Zackenberge begrenzen nicht mehr den Horziont, sondern öffnen ihn, porzellanener Himmel und Wolken mit großen Gesten, Pilger an Pilger unten auf einer hartgetretenden Autobahn aus weißem Schotter nach Westen, immer entlang der Autostraße. So kenne ich dich: langer, staubiger, müder Camino, Hitze und Schweiß. Eine Wallfahrt ist kein Tourismus. Mohn, Natternköpfe und Kornblumen schwimmen in lichtdurchbrochenenm Grün.
Santo Domingo de la Calzada zerläuft in der Ebene wie Pfannkuchenteig. Nur festgenagelt dem Turm der Kathedrale, der aus dem Ort heraussticht wie ein Dorn. Bekannt ist der Ort durch das Hühnerwunder. Ein Hühnerfußballclub hat sich das Huhn auf das Wappen geschrieben, der Weg geht geruhsam durch die Vorstadt, eine Autowaschanlage besitzt eine eigene Station, um Fahrräder zu waschen. Ich bin zu müde, um lange herumzusuchen und gehe zu den Zisterzienserinnen in ein vernachlässigtes uraltes Konvent mit engen Stockbetten. Eine Schwester verteilt die Zimmer, wie alle anderen Einheimischen spricht sie einen spanischen Dialekt, der kaum verständlich ist, eigentlich sinnvoll in der Stadt des Hühnerwunders so zu sprechen, wie einem der Schnabel gewachsen ist.

Das Hühnerwunder ist die alte Geschichte des ungerecht Verurteilten: Des Wirtes verschmähtes Töchterlein steckt dem gutaussehenden Sohn einer Pilgerfamilie einen kostbaren Becher in die Tasche, vorauf dieser aufgeknüpft wird. Als der Betrug offenbar wird, ist es augenscheinlich zu spät: Der Richter sagt den Eltern, der Sohn sei so tot, wie das Huhn hier auf seinem Tisch. Worauf das Tier wieder lebendig vom Teller hüpft. Denn Santo Domingo hatte den Verurteilten am Leben erhalten.

Eine Geschichte wie der Postmichel aus Esslingen oder der Geräderte in der Tübinger Stiftskirche. Vielleicht ein ganz frühes Beispiel einer Wandersage, flugs eine Dissertation über frühmittelalterliche Wandersagen geschrieben und ihre Auswirkungen auf die Architetur. Der Postmichelbrunnen in Esslingen, der Geräderte im Tübinger Kirchenfenster und natürlich der Hühnerstall in der Kathedrale von Santo Domingo de La Calzada. Den muss man aber erstmal finden. Das Huhn ist in zwei Metern Höhe über einer Tür eingelassen und guckt durch Gitterstäbe und eine Glasscheibe. Ein Wunder, dass man es überhaupt findet. Vielleicht ist das das Hühnerwunder? Ich, als letzter in Tübingen lebender Gründer des Stammtisches unser Huhn, lasse mich unter dem Kirchengockel, den keiner sieht, ablichten.

Unter Hühnern

Früh bin ich in Santo Domingo angekommen und früh sitze ich an der Kathedrale im Schatten mit anderen Pilgern:

Die Dänin: War Anwältin im öffentlichen Dienst. Wurde irgendwie übel in den Vorruhestand geschickt und versucht jetzt die Jahre bis zum Rentendasein zu überbrücken. Auf dem Camino will sie zu sich finden.

Der Österreicher:
Angestellter Innenarchitekt. Als der Sohn die Firma übernahm, war sie nach kurzer Zeit pleite. Rappelte sich auf, ließ sich woanders einstellen, wieder übernimmt der Sohn die Firma, wieder steht er auf der Straße. Ist 56, weiß nicht, wie es weiter geht, Geht mal den Weg. Kriegt kein Arbeitslosengeld, weil er im Ausland ist, weiß aber, dass er etwas machen muss, sonst kommt er nicht klar.

Der Schwabe: „Dann haben sie neue Leute eingekauft, die keine Ahnung von dem Job haben, anstatt uns zu fragen, wie es funktioniert. Das Betriebsklima sei so schlecht, hat unser Chef geklagt. Er hat gesagt: Dabei sei Betriebsklima sei das einzige Klima das man beeinflussen könne.“

Immer die gleichen Sprüche, die man entweder in einem Idioten-Ratgeber für 3.50 Euro lesen kann oder auf einer Schulung für 35 000 hört. Hat wohl noch nie was vom Klimawandel gehört, sein Chef. Ich sage:

„Hat er es beeinflusst?“

„Er hat 100 Leute entlassen.“

Ausgebrannte. Nur wer brennt, kann auch ausbrennen.

Der ganze Camino de Santiago ist ein großes Hospital der Verbrannten. Ein Kontinent, der eine Straße geschaffen hat als Ausweg für seine inhumane Arbeitsverhältnisse. Es ist eine Straße der Verlierer für eine Gesellschaft, die nur in Gewinner und Verlierer einteilt. Die das Ende eines Berufslebens mit Prozessen, Abfindungen, Demütigungen und Erniedrigungen überzieht. Die die Verlierer als Verlorene entlässt.

Hinter Santiago wartet die Revolution.

Der einzige Trost ist, dass es die Manager genauso erwischt und meist noch früher. Am Ende rotten die Tyrannen doch sich selber aus.

27.5.

Santo Domingo de la Calzada – Villafranca Montes de Oca

„You have to smell at the Flowes“. Ein 70 Jähriger Brite, der aussieht wie ein alternder Filmstar, sagt das vor der Kirche in Cranjon, wo sich die Schwalben herabstürzen und ein wunderschöner Jesus in den Schatten leuchtet. Wenn du deinen Weg gehst, kannst du ihn schnell gehen oder langsam, an den Blumen riechen oder nicht. Das Ende am Spiel des Lebens ist immer das selbe: Der Tod. Wer gewinnt das Spiel? Nicht der, am ersten ankommt.

Eine Koreanerin läuft mir in Belorado zu wie ein streunendes Kätzchen. Hat ihre Freunde verloren und kauert verlassen im kümmerlichen Schatten eines Hauses. Ich ziehe sie in der Hitze des späten Nachmittags den Weg entlang, sie läuft hinter mir im Takt meiner Schritte. Als sie gar nicht mehr kann, nehme ich sie an der Hand bis Tosantos, und übergebe sie ihren Landsleuten, die dort untergekommen sind. Bedankt sich überschwänglich.

Ich aber muss nach Villafranca.

Lasse mich nun selbst ziehen von den Ereignissen, die ich damals erlebt habe und von der Geschichte, die ich über den Hexenmeister geschrieben habe, werde Schritt für Schritt immer mehr gefangen von der eigenen Imagination. Gewitter ziehen auf, Abendlicht flutet den Berg des Hexenmeisters, einen Berg, den ich erfunden habe, und der jetzt doch vor mir liegt. Erinnerungen, Roman und Realität durchdringt sich. Der Berg zieht, Roggenfelder in hellerem Grün, dunkle Heide tropft von ihm herab in grün fallenden Schleifen, gebuchtet und verschlungen, ein Baum krönt die Spitze. Die Gewitter kommen näher und die Füße sind so müde, dass ich nur noch stolpere, aber ich weiß, dort ist der Dämon des Westens vergraben, die letzten Meter arbeite ich mich einen Trampelpfad entlang an einer Kirchenruine. Hier ist nichts mehr, so wie ich es beschrieben haben, und ich frage mich, ob ich je in Villafranca war, ob ich nicht alles erfunden habe, das Refugio damals, das ein Gewächshaus mit Jalousien war, heute steht ein städtischer Steinbau, als ich aber die Treppe hochtrotte liegt die Italienerin im Schlafsack alleine im Zimmer, das Gesicht unter einem schwarzen Tuch verborgen, sie hat also wieder auf mich gewartet. Es ist noch nicht zuende.


Eine neue Geschichte beginnt, wie sie eben nur in Villafranca spielen kann.

Eine echte Kneipe für Männer. Man kann Schnaps kaufen, große Schinken mit Knochen drin und LED-Lampen mit Magnet dran fürs Auto. Und eine Frau, schwarzhaarig, breites Gesicht. Sie war in Zubiri schon betrunken auf dem Dorfplatz gelegen, als der Kolumbianer mit Wermut um sich warf, danach hatte ich sie in Pamplona wieder gesehen, beim Bier vor dem Jesus y Maria Refugio mit dem hübschen Bretonen, jetzt steht sie an der Bar, hat schon wieder ordentlich getankt. Den Camino im Vollrausch. „Mas bonito, el camino“, sagt sie, Sie nimmt mich in den Arm, wir bleiben Arm in Arm stehen, während sie Schnaps säuft. Sie wechselt zum Mann zu ihrer Linken, ein kleiner Spanier, der ihr zuzwinkert, während seine Frau an der Theke arbeitet.

Die Herberge macht um 22 Uhr zu. Sie geht fünf vor 22 Uhr auf die Gasse. Ihr Typ für diesen Abend, schwarze Leggins, klein, graumeliertes Haar, Schnauzer, wartet ungehalten wie ein Wachhund, mindestens die Ohren aufgestellt. Dann geht er aus der Tür und sucht sie. Ich bin noch unten, weil ich auf meine Wäsche warten muss. Ich sitze im Dunkel, weil ich keinen Bock habe ständig die Bewegungsmelder zu aktivieren. Schließlich trudeln die beiden ein. Sie geht ihn die Küche vor einen langen fahrbaren metallenen Tisch, legt sich rücklings darauf, so wie sich die Frauen hinlegen. An ihren Kopf eine Bierdose, in der Hand die qualmende Zigarette. Der Typ steht neben ihr. Ich verziehe mich auf die Terrasse, der Wäschetrockner donnert die Wäsche in die Trommel, wumm, wumm, wumm, wumm. Sie kommt raus, schweigt, geht die Treppen hoch. Schmeißt wütend ihre Sandalen die Treppe runter. Verschwindet nach oben. Von dem Typen sehe ich nichts mehr. Ich packe meine Wäsche und gehe ins Bett.

28.05
Villafranc Montes de Oca – Atapuerca
Heute gehen sie mir alle auf den Wecker. Der bretthart gestampfte Camino, breit wie eine Autobahn durch den Eichen-Niederwald, die Massen von Pilgern, die laufenden Motoren der Gepäcktransporter, die den Oldies die Rucksäcke hinterherkutschieren, die durchgeknallten Moutainbiker, die ohne Rücksicht durch die Pilgerpulks preschen. Die völlig überforderten Oldie-Pilger, die ewig schnatternden Gruppenpilger, die Sonnenbrillen-Pilger, die cool sind, in ihren Tarnanzügen, die Familienpilger mit ihren missgelaunten Kindern, die Rennpilger in ihren Turbolatschen und High-Tec-Rucksäcken, die Amerikaner, die Koreaner, die Deutschen, die Neuseeländer, die Italiener, die Spanier einfach alle. Regen zieht auf, mein Regenschirm zieht nicht auf, ist zusammengerostet. Ich haue ihn mit der Faust auseinander und schneide mir den Daumen blutig. Flugs den kugelgelagerten High-Tec-Regenschirm aus Titan und Extrem-Textil erfunden und damit ein Vermögen verdient. Eine Brasilianerin kommt vorbei, die mir schon etliche Tage vorher aufgefallen ist, weil sie den ganzen Tag glücklich in den blauen HImmel hineinsang. Wir singen in the rain. Ich tanze um meine Wanderstöcke.In St. Juan de Ortega bin ich lange in der Kirche. Der neue Atem des Katholizismus: Statt hölzerner Kniebänke gibt es Kissen, statt barock verdrehter Holzfiguren, menschlich gemalte Ikonen, Kerzen nicht im Blechkasten sondern in einer hübschen Sandschale.

St. Juan de Ortega

Ich bete in der Kirche, und Gott ist heute zu Scherzen aufgelegt. Das Handy tutet. „Just-Be-lieve hat Ihnen eine Nachricht geschickt“, steht auf dem Display. Es ist eines der beiden deutsche Mädchen, das mich fotografierte, als ich in Roncevalles die Hühner fütterte.

Lange war ich in der Kirche, noch länger in der Kneipe. Ausgelaugt von den Ereignissen in Villafranca. Die bieden Israelinnen haben mich eingeholt, „Du schaust fertig aus!“ „Ja, bin ich.“ Eine Neuseeländerin bemitleidet mich, ich sähe müde aus, sagt sie, müde ja, und du hast gar nicht geschnarcht, sagt sie. Für schnarchen habe glaub einfach zuviel Körpergewicht verloren inzwischen, außerdem keinen Alkohol getrunken. Ich kann noch nicht weiter. Nicht so, nicht ohne diese Worte geschrieben zu haben. Nicht ohne den Weg wieder gefunden zu haben.

Mein Jakobsweg, mon Chemin, mi camino, Teil 12

14. 05.
Navarrenx – St. Jean Pied de Port

Im Pyrenäenvorland wird die Landschaft wieder hügeliger, auf und ab, sehr steil, und ich bin froh, auf eine einigermaßen gute Straße zu kommen, mit einigermaßen breitem Bankett. Unter drei Eichen raste ich, es gibt die guten getrockneten Würste, dazu Käse, also Fett, Eiweiß, Salz. Gigantische Regenwürmer gibt es hier, gut fingerdick. Noch 29 Kilometer bis St. Jean-PIied-de-Port, Regen feuchtet das Land, tropft mir die Brille zu. Ich stecke sie in die Tasche weg damit und freie Sicht. Die Autos hupen, um mich anzufeuern, Motorradfahrer glotzen, Schafe blicken auf. Sacht geht die Straße aufwärts. Alles tut der Mensch zum letzten Mal, denke ich. Hier in St. Jean Pied de Port werde ich mein Fahrrad losschicken. Muss nie wieder umständlich meinen Rucksack auf den Gepäckträger schnüren, muss nicht mehr dasTrumm die Berge hochwuchten, nicht mehr mit steifgefrorenen Beinen über den Rahmen klettern, um anzufahren.Jetzt also mitten im Baskenland. Große Patrioten, wie die Basken sind, wird mir der baskische Kuchen und der Brebis empfohlen, milchiger Schafskäse, der super in den Magen passt. Ich lerne: Patriotismus bedeutet auch, die Vielfalt erhalten. In Tübingen, wo man nicht zwischen Patriotismus, Nationalismus und Nationalsozialismus unterscheidet, wäre das Lob des Patriotismus nicht möglich. Hier schon: denn der baskische Patriotismus hat mit dem Baskischen eine der wenigen vorindogermanischen europäischen Sprachen erhalten, während das benachbarte Aquitanisch und Vasconisch ausgestorben ist. Patriotische Schafe weiden an den Hängen der Pyrenäen. Ich erinnere mich daran, was mir Fritz The Cat erzählt hat: Er glaubte, das Französische sei eine Sprache der Poesie, das Italienische, jene Sprache, in der man am besten singen könne, und das Deutsche sei wie keine andere Sprache dazu geschaffen, Technisches auszudrücken. Das erinnerte mich an jenen Kaiser, war das Carlos Quintos, oder Maximilian, der soundsovielte, der sagte, er spreche mit den Damen französisch, vor Gericht Latein, und befehle auf Deutsch. Das heißt, der Sprache, wird jeweils jene Eigenschaft zugemessen, die gerade mit dem herrschenden Nationalvorurteil einhergeht. Dann nun Deutsch die Sprache der Technik geworden ist, scheint sich die Reputation im Ausland merklich gebessert zu haben. Baum mit Wasseranschluss:



Städte liegen in Tälern, und auf der letzten Anhöhe vor St. Jean Pied de Port, wo es nach St. Jean le Veux abgeht, sehe ich zum ersten Mal die Pyrenäen. Regenvorhänge geben die Berge frei, wie frisch enthüllte Denkmäler. Sie erheben sich vor den Regenschleiern, ernst und gelassen, und ich kann es kaum fassen, endlich vor diesem Gebirge zu stehen, das ich immer kennen lernen wollte. Grüne sanftspitzige Riesen, die sich über Regen freuen, der ihre Wiesen tränkt. Die Pilger auf dem Weg sind glücklich, dass sie nach wer weiß wie vielen Wochen die Stadt erreicht haben, so wie ich. Wir feuern uns an, und ich hole was geht, aus dem Klapprad raus und fahre fröhlich klingelnd an ihnen vorbei.

St. Jean-Pied-de-Port ist ein ganzes Heerlager aus Pilgern, die aus der ganzen Welt kommen. Mit ihren Träumen und Hoffnungen an den Weg machen sie das Regenwetter vergessen. Die Altstadt ist ganz nah an eine Zitadelle gedrückt und besteht aus einer steilen Straße, an deren Rändern die Gites und die Kneipen aufgefädelt sind. Vermutlich ist wegen Pfingsten alles belegt. Vom Pilgerbüro, in dem sechs Mann ununterbrochen schuften, steht eine Schlange von Rucksäcken mit Beinen unten dran in die Gasse. Ich bekomme ein letztes Bett in einem Gite. Mein Inneres sträubt sich dagegen, aber der Regen und die Müdigkeit unterdrücken die Innerre Stimme und wie immer wäre es besser gewesen, auf sie zu hören. Die Herbergsmutter ist total durchgeknallt: „Zen Buddhismus Gite“ heißt der vollgestellte Müllhaufen, in dem sie mit zehn Katzen und zwei Hunden schläft, schon im Salon stinkt es nach Katzenpisse. Man kann an keiner Türklinke ziehen, ohne nicht wenigstens die Hälfte des Türschlosses abzureißen. Eine Amerikanerin ist mit zwei Töchtern unterwegs und will mit mir zur Messe. Als wir zurückkommen, hat die Herbergsmutter mein Fahrrad auf den Gang gezwängt, einen meiner Wanderstock vor die Tür gelegt, und der ist natürlich jetzt geklaut. Sie weiß von nichts und erzählt mir irgendeine Geschichte. Die ganze Nacht krähen die Hähne, in ihrem Hühnerhof, es miauen die Katzen und ich schlafe bloß stundenweise. Ich denke an Joan Baez: Buddhismus ist just another way of nothing left to loose – – – – Wobei sich das nothing left bei dieser Frau eindeutig auf den Verstand bezieht.

Beim Pilgermenü in einer Kneipe setzt sich eine Italienerin neben mich, die es schafft, sich mit drei Wörtern Englisch, zwei Wörtern Spanisch und etwas Deutsch, eine Stunde lang mit mir zu unterhalten. Merke: Wenn man sich verstehen will, dann versteht man sich auch. Daraus folgt: Alle Missverständnisse sind ihn Wirklichkeit Absicht.

Mein Handtuch riecht inzwischen so schimmlig, dass ich es nur noch wegwerfen kann. Abends ein trauliches Beisammensein mit Zen Buddhismus, sechs Katzen, zwei Hunden, einem Fernseher.

Aus einem T-Shirt schneidere ich mir ein neues Handtuch und nähe einen Aufhänger dran. Weil es keine T-Shirts mehr gibt, auf denen nicht irgend ein Unsinn mit „fun“ und „adventure“, und „explore“ seht, schneide ich diese Wörter aus dem Stoff und nähe sie vorne auf die Unterhosen, damit ich im Halbdunkel der Schlafsäle nicht immer mühsam in den drei Löchern der Hose nach den richtigen suchen muss. Währenddessen sitzt die durchgeknallte Herbergsmutter auf dem Sessel vor einem Kaminfeuer und schnarcht, während Voices of France läuft. Hin und wieder erwacht sie, wenn irgendeine Katze mit irgendeinem Hund Streit anfängt.

15.05

St. Jean-Pied-de-Port – Ruhetag.

Endlich hab ich das Rätsel der zu kurzen Papiertüten für die zu langen Baguettes gelöst, ein gutmütiger dicker Elsässer hat es mir beim Abendessen erklärt: „Na die Papiertüten werden zu heiß gewaschen!“ Eine neue Gruppe von Wanderern ist in meiner neuen Herberge eingetroffen. Hier ohne Katzen und ihre Pisse will ich mich zweit Tage ausruhen. Da Pfingsten ist, muss ich auch noch den Montag in St. Jean bleiben, weil die Post erst wieder am Dienstag öffnet, um mein Fahrrad wegzuschicken.

Morgens floh ich mehr, als das ich abreiste. Um mich zu sortieren, gehe ich in die Messe. Sie kommt mir spanisch vor, war aber baskisch. Während in den meisten Gottesdiensten stets dünne Frauenstimmen dominieren, schmetterten hier die Männer die Hallelujas gegen die Kirchenmauern wie Pelote-Bälle.

Wandere etwas verloren durch die Straßen und fragte an der ersten offenen Tür nach einem Quartier. Dass ich dabei das beste in der ganzen Stadt gefunden habe, sehe ich als ausgleichende Gerechtigkeit. Ein britisches Ehepaar unterhält ganz familiär, den Laden, der aus dem Vermächtnis einer frommen Frau gestiftet wurde. Blitzsauber und sehr unkompliziert, „das sauberste in der Stadt“, sagt Paul, der Herbergsvater.

Danach klappere ich die Läden ab nach großen Kartons, finde aber nichts, nicht mal im Supermarkt, doch stoße ich auf eine Entsorgungsstation, in der ein schon ein Handwerker-Ehepaar-Bauarbeiter nach Kartons wühlt. Ich schleppe vier davon durch die ganze Stadt und lasse sie im Hof der Herberge vom Regen trocknen.

Schlendere durch die Läden, schöne dicht gewobene Stoffe haben Sie hier, ideal für Möbel. Tolle Weine, Baskenmützen locken zum Kauf, an jeder Ecke kann man Ausrüstung kaufen. Oder es lassen. Der Sinn des Pilgerns: Sich nichts mehr aufhalsen.



Zeit für die beste Kindergeschichte der Welt, die bald so rund ist wie eine Murmel. Bloß weiß ich nicht, ob ich sie nicht unter den Händen zu gewalttätig gemacht habe. Beim Schreiben vergeht der Tag, Stunden, die fliehen und doch zählen. Unterdessen verlassen Heerscharen von Pilgern die Stadt, neue kommen an. Manche mit tastenden Schritten, als könnten sie gar nicht fassen, dass sie jetzt endlich in dieser Stadt sind. Manche gehen schnurstracks in die Kirche, und das erinnert mich daran, wie ich glücklich ich gestern war, dieses Ziel zu erreichen.

Die Brücke von St. Pied de Port

Auch seltsame Leute sind da: Deutsche Bettelpunks mit zwei Hunden, ein Mann, der die Welt ganz schon fast verlassen hat, und mit seinem Haselnussstecken und Rucksack vor dem Stadttor sitzt und betet.Bald ist mein Klapprad ein abenteuerlich verschnürtes Paket. Abends ist die Bude voll mit Pilgern und Wanderern, der Chef des nationalen französischen Wanderclubs ist zufällig da, er kennt natürlich den schwäbischen Albverein und seinen Vorsitzenden Ulrich Rauchfuß aus meiner heißgeliebten Heimatstadt Plochingen. Mit einem portugiesischen Comic-Zeichner fabuliere ich über das Gilgamesch-Epos und das Nibelungenlied. Weil er von überall aus in der Welt zeichnen kann, hat er keinen festen Wohnistz mehr nur noch ein paar feste Adressen von Verwandten. Seit zwei Jahren wandert er mit seiner Frau, einer Australierien durch die Welt. Er rät mir, die alten keltischen Epen zu lesen und die Kindergeschichte ohne Zeichnungen einem Verlag anzubieten, weil die Verlage gern selbst über die Zeichner entscheiden.
16.5.
St. Jean Pied-de-Port, zweiter Ruhetag.

Ob ich krank sei?, fragt Paul. „Nein“, sage ich. „Doch du bist krank!“ Denn nur so ist es nach den Statuten des Gites erlaubt, zwei Tage zu bleiben, ich werde in ein Zimmer mit vier Stockbetten verfrachtet, das Paul scherzhaft, das Hospital nennt. Ich schlage ihn zum Dank dafür zum letzten Ritter der Hospitaliter, was ihn sehr freut. Weil ich gestern schon Englisch, Französisch und Spanisch quer über den Tisch übersetzte, gelte ich ihm als Sprachgenie: „He speaks every Language“, sagt er immerzu, wenn er mich anderen Pilgern vorstellt.
Die Armee und die Ameisen, nenne ich die Kindergeschichte, die ich bis auf eine letzte Szene irgendwo in der Mitte fertig kriege. Am Platz, bevor es in die Altstadt von St. Jean Pied de Port geht, ist ein gutes Schreibcafe, ohne Musik und nervige Leute, überhaupt ist das Kneipen-Schreiben im Ausland leichter, weil einen die Gespräche der Gäste nie betreffen sondern nur angenehmes menschliches Hintergrundrauschen bilden. In den Schreibpausen sehe ich den Pilgern hinterher und den Touristen, die an der Hauptstraße nach Spanien fahren. Nein, Pilgern ist kein Tourismus. Überhaupt nicht. Wie sagte schon der dicke Elsässer gestern: „Auf dem Weg startest Du als Wanderer und endest als Pilger.“ Als ich zur Zitatelle pilgere, von Vauban, dem französischen Festungsbauer im 18. Jahrhundert erbaut, merke ich, dass ich den Fuß fast schon wieder abrollen kann, vielleicht schaffe ich es doch noch, den Weg fortzusetzen. Sonst ist mein Plan, mich irgendwie nach Pamplona zu schleppen und dann abzubrechen. In Pamplona war ich vor 25 Jahren aufgebrochen und ein Kreis hätte sich geschlossen.
Und noch ein Junge sitzt am Tisch, Gabriel, der ganz von Gott voll ist. Er verrät nicht, wo er herkommt, muss aber irgendwo vom Norden Deutschlands losgelaufen sein, und reist ohne Geld. Weil er ein Piger sein will wie im Mittelalter lebt er von milden Gaben. Im Monat, sagt er, brauche er 60 Euro Die rotblonden Locken hat über der Sirn verknotet, um das Handgelenk einen Rosenkranz geschlungen, Er ist ganz dürr, isst kein Fleisch, trinkt nicht, hat in einem roten Schuber immer eine Bibel vor sich liegen. Er vertraut so fest auf Gott, und ist sich dabei so sicher geworden, dass ihm Gott hilft, dass er es tatsächlich über den Camino schafft. Ich hole meine Pilgerbibel aus dem Rucksack und ermuntere ihn, Fraktur zu lesen. Den Franzosen versuche ich zu erklären, was eine Senfkornbibel ist, scheitere aber.
Und Agathe sitzt neben mir. Ein 20-jähriges-Mädchen, das ganz alleine von Mont St. Michel losgelaufen ist. Überhaupt scheinen die Bretonen ein hartgesottenes Völkchen zu sein. Redet nicht viel, sitzt bei bei 12 Grad barfuß auf dem Boden und steht im T-Shirt im Regen, wie ihr schweigsamer Reisebegleiter, ebenfalls Bretone. Die jungen Leute gehen aus, während die Herbergseltern auf versprengte Pilger warten. Unter dem Vorwand, die jungen Leute aus der Kneipe zu ziehen, genehmige ich mir noch ein Bier in ihrer Kneipe und scheuche sie dann doch in die Herberge. Ich schenke Gabriel das Wechselgeld, 1,60 Euro,.

Wie immer irrt man sich über Menschen, wenn man nicht mit ihnen spricht. Die Bettelpunks erfahre ich, sind auch Pilger, nur haben sie die Asche eines Hundes dabei, der nach Santiago soll. Merkwürdige Vorstellung, weil sie mich an Luthers Ausspruch über die Pilgerei, man wisse nicht ob in Santiago ein Stück Holz oder ein toter Hund begraben liege. Als ob es beim Wallfahren darauf ankommen würde. Keiner von Luthers brillantesten Sätze. Ich google die Geschichte vom wahren Jakob: Man wisse nicht, ob in Santiago die Gebeine von Jakobus Zebedäus, dem älteren oder von Jakobus Alpäus dem Jüngeren verehrt würden. Zugegeben ich Google sie nicht, ich schreibe sie aus dem Gedächtnis ab, wie ich es einst in der Legendäre Aurea gelesen haben. Paul hat mich wohl ins Herz geschlossen und will mich noch unbedingt fotografieren, bevor ich abreise. „Heuchle, dass du glücklich bist“, sagt er zum Abschied, als ich fürs Foto lächeln muss.

Nicht aus der Gosse trinken

St.

17.05

St.

Jean Pied de Port – Roncevalles.

Mein Fahrrad lasse ich von einem privaten Packdienst abholen, weil mir nach zwei Tagen des Ruhens urplötzlich einfällt, dass ich den 15 Kilo schweren Karton nicht zur Post tragen kann, ohne die Verpackung und meinen Rücken zu ruinieren. Die ganze Pilgerei der Stadt trifft sich am Postamt, sogar Fritz The Cat ist wieder da und sendet ein paar alte Socken weg. Nochmal 600 Gramm Überflüssiges tüte ich ein, was insgesamt 14 Euro kostet und den Wert des Inhalts möglicherweise übersteigt, wie mir leider erst im Nachhinein klar wird. Zwei deutsche Mädchen waren in St. Jean Pied de Port zu sehr sich selbst überlassen – jedenfalls haben sie sich Schuhe gekauft, richtig heiße Reifen in Pink, die ebenfalls nach Deutschland müssen. Natürlich müssen sie erst mal in Facebook. Paul hat mir noch einen ausrangierten Gehstock mitgegeben, den Pilger zurück gelassen haben, und ich glaube vor allem die Stöcke sind es, die meine Gelenke schonen.

Beim Schreiben fange ich die Tage ein wie große bunte Schmetterlinge: Ich lasse sie, als alter Naturschützer, aber gleich wieder fliegen. Eine Spur führt durch diesen Tag. Eine Spur, ein langes endloses Band, das sich von 400 Metern im Tal über 1400 Höhenmeter durch die Pyrenenän zieht. Der Weg hat sich abermals gewandelt: War der Weg in Deutschland eine schwache Spur für einsame Wölfe, wurde er in Frankreich zum Altersheim für verdruckte Franzosen, jetzt aber geht es Rucksack an Rucksack über die Strecke. Es ist unmöglich, sich zu verlaufen, man muss einfach dem Vordermann hinterher. Das Publikum ist deutlich jünger geworden und deutlich lebenslustiger. Die Franzosen sind immer noch da und verdruckst, werden aber jetzt von laut schreienden lachenden Italiern, Spaniern und Deutschten an die Wand gedruckst. Die vielen Angeslsachsen, scheren sich sowieso um nichts. Der Weg hat seine Härte verloren, so scheint es, fast wie Urlaub.

Ich gebe meinen Bergstiefeln noch einmal eine Chance, der Fuß schmerzt höllisch und ich rolle ihn behutsam ab, ganz langsam, hörst du Haxe, ganz langsam, kein Grund rumzuzicken. Fritz überholt mich, sagt auch, wernn du langsam gehen kannst, ist es doch okay und so gehe ich langsam, Schritt für Schritt, Teck-Tock. Orchideen begleiten mich, komme langsam dahinter, warum es so viel davon gibt; Die Pferde fressen sie nicht, jetzt wachsen auch fleischfressende Pflanzen, Fettkraut, und dann meine Lieblingsblumen, die Schusternägel. Dämlicher Name für die blauesten Bläue, die in Deutschland blüht. Weiter geht es, höher geht es. Die Berge sind ganz mit Gras bewachsen. Sie kauern wie schlafende Drachen mit schuppige-felsigem Rücken. Hoch geht’s: Stechginster, Felsen, Serpentine um Serpentine. Es gibt keine so ausgeprägten Vegetationszonen wie in den Alpen, es gibt nur eine lange Strecke Wegs, an der sich Fußgänger, Radler und E-Bike entlangschleppen, und ich mit meinen Stöcken, Teck – Tock wie der Soldat in Borcherts „Draußen vor der Tür.“

Die Laubwälder gehen bis 1200 Meter

Fünf Berge stehen im welschen Land
Die seynd uns Pilgrim wohlbekannt
Der erste heißet Runzevale
Da werden dem Pilgrim die Backen schmale.

Rüdiger Happ hat dieses Pilgerlied gefunden für mich, danke dafür.

Ich steige mit einem Amerikaner hoch, dessen deutsche Vorfahren den Schwabenzug im 19. Jahrhundert auf die Krim mitgemacht haben, von Stalin nach Sibirien verschleppt wurden und schließlich in den USA gelandet sind. Ich erzähle ihm von meinen Forschungen zu dem Thema, so lange, bis wir auf zwei wirklich bildhübsche Mädchen stoßen, die am Wegrand rasten. Zwei Israelinnen, oder sagt man Isrealitinnen?, die fließend Spanisch und Englisch sprechen. Ich lasse den guten Amerikaner bei den Mädchen, wohl wissend, dass seine Gattin, die langsamer läuft, bald auftauchen wird. Die Wolken zergehen in einen Himmel von spanischer Bläue. Herrlich, endlich. Die Bäume sind wie eingesteckt ins Heidekraut, der Laubwald geht bis auf 1200 Meter hoch, ich wandere in den dritten Frühling. Die erste Frühlingsvegetation erlebte ich Anfang April im Schwarzwald, man ist das lange her, zum zweiten Mal war Frühling im Aubrac auf 1300 Metern Höhe und jetzt wieder orchideenübersähte Weiden, Farne, die ihre Blätter langsam entrollen, lindes Grün. Ich finde 1 Euro 40 auf der Straße und frage mich, ob die 20 Cent Unterschied zu meiner Spende an Gabriel die Zinsen des Himmelreichs sind.

Jetzt immer weiter, immer höher, die Straße dehnt und zieht sich von Bergrücken zu Bergrücken. Die Rolandsquelle kommt. Muss noch googeln, ob der Orlando Furioso der gleiche ist wie der Rasende Roland, der wiederum jener Roland sein sollte, den hier die Mauren abgemurkst haben, sagt zumindest die Rolandssage.
Wikipedia schiebt das tragische Ende der Nachhut von Karl dem Großen den Basken in die Schuhe, die hier bei Roncevalle einen Hinterhalt gelegt hatten. Ich erkläre Leuten, die es nicht wissen wollen, dass mir eine Szene im Rolandslied eindrücklich geblieben ist: als die Schilder der Recken so mit Pfeilen gespickt waren, dass sie sie nicht mehr hochheben könnten und mit den Schwertern die Pfeile abhieben. Mir als bescheidenem Philologen genügt es, mich an der labialen Metathese von Orlando und Roland zu delektieren, und natürlich an allerlei seltenen Lippenblütlern am Wegesrand. Weiter, höher, Buchenwald klebt an abenteuerlich steilen Hängen, die Bäume sind gebogen wie Kleiderhaken. Irgendwann auf der Spur der Steine ist es so wie am Ende eines Marathonlaufes. Durch die Schmerzen, die Anstrengung, das hämmernde Herz, fühlt man plötzlich, dass man den Lauf schaffen wird, dass man ankommen wird, was eine unendliche Erleichterung bedeutet und einen unendlichen Ansporn. Die gleiche Sicherheit und das tiefe Glücksgefühl erlebe ich jetzt. Ich weiß nun, dass ich mehr als 20 Kilometer am Tag gehen kann, Ich bin meinem Zeitplan eine Woche voraus, wenn nichts Gravierendes schiefläuft, ich werde ich in Santiago ankommen. Weiter, höher, weiter. Unspektakulär erreiche ich die Passhöhe, die von einer SOS-Station gekrönt ist mit einem Notfall-Telefon und einer Bank, um Verletzte zu betten.
Dann tanze ich die Felsen herab. Ungefähr 50 Höhenmeter. Eine ältere Französin ist hingefallen und komplett durch den Wind. Umringt von vier Deutschen, Vater und Tocher, sowie einem Paar aus Berlin. Sie sprechen kaum französisch, die Dame kaum Englisch. Ich dolmetsche, erfahre, dass sie nicht verletzt ist, sie will aber ein Taxi haben. Ich rufe in Roncevalles an, kann aber nicht genug Spanisch, um meiner Gesprächspartnerin begreiflich zu machen, dass sie ein Taxi zur SOS- Station schicken soll. Gibt mir aber die Nummer eines Taxi-Unternehmens. Die gestürzte Frau wieselt zur Station hoch und ich denke, wenn sie das schafft, dann kann sie auch vollends runterlaufen, bevor wir ein Taxi ins Nirwana schicken.

Auf der Passhöhe.

Die Deutschen tragen abwechselnd ihren Rucksack, und ich nehme sie wie ein kleines Kind ins Schlepp. Ich erkläre ihr, wie man auf Bergpfaden geht, auf welche Steine man besser nicht tritt und welche einem zuverlässig Halt geben. Ich versuche ihr beizubringen, wie man die Stöcke einsetzt. Sie blickt nur die Hälfte, kommt aber leidlich voran. Der Absieg geht durch prächtige hohe Buchenwälder. Etliche Gedenkkreuze, es sind wohl schon viele Gestorben auf den Pässen. Anscheinend gibt es hier einen tückischen Nebel. Es ist still, wenig Vögel, kaum Unterholz. Sumpfige Pfade, es geht im Schneckentempo runter. Ich halte die Frau mit schön geredeten Zeitangaben bei der Stange. Ist doch nur noch ein Stündchen, sage ich.

Immer rette ich die alten Schachteln aus Bergnot, die nie jungen hübschen. Da sind die jungen Männer eben schneller, mutmaßen Vater und Tochter, die gerade den Rucksack tragen. Leuchtet ein.

Schritt für Schritt ganz langsam bewegen wir uns fort, und das ist vielleicht der tiefere Sinn des Ganzen, weil auch mir das langsame Tempo gut tut und meine Haxen weiter in der Spur hält. Der Wald lichtet sich urplötzlich, ein Bächlein rinnt und dann stößt man mit der Nase auf eine gigantische Mauer. Wer es jetzt noch schafft, den Kopf zu heben, der sieht die Abtei von Roncevalles. Weil sich inzwischen jahraus jahrein eine unübersehbare Horde von Pilgern bergab wälzt, haben die guten Mönche auf dem Parkplatz ihres Konvents Wohnkontainer errichtet, in denen je sechs Stockbetten quietschen.
Ich nehme mit dem Berliner Pärchen einen Apperetiv. Es tut mal gut mit Deutschen zusammen zu sein. Wir bätschen vor dem Essen jeder zwei Halbe weg, weichen darin das Abendessen ein, und stürzen nach Tisch noch zwei Halbe jeder und dann ab in den Wohncontainer.
Lebensgeschichten mit Kindern aus erster Ehe und so Zeug. Wie viele Menschenleben sind durch diese Geschichten zerstört worden? Es muss endlich eine Ehe auf Zeit geben, die aufgehoben werden kann, ohne dass zwei menschliche und finanzielle Ruinen übrigbleiben, auf denen einkichernder Anwalt sein Geld zählt.

Morgens sind die süßen Isarelinnen am Start, die ihren Wohncontainer in den Wahnsinn getrieben haben. Sie hatten alle Klamotten angezogen, die sie hatten, waren in den Schlafsack gekrochen, haben oben zugemacht, dann die Heizung auf 90 Grad gestellt, und die ganze Nacht gebibbert, während der Rest vom Wohncontainern langsam in der Hitze gegrillt wurde. Aber süß sind sie wirklich. Die eine sieht aus wie Amy Winehouse, die andere noch besser.

18.05
Roncevalles-Zubirii

Nur noch 790 Kilometer

Klarer kühler blauer Himmel, erst spät hämmern mir ein paar Regentropfen auf den Sombrero. Weiden mit Mutterpferden und ihren Fohlen.
Nach drei Kilometern durch duftigen Laubwald kommt der erste Lebensmittel-Laden, dessen Inhaber, angesichts der Tatsache, dass ich Deutscher bin, sofort eine Arie mit Fritz Wunderlich abspielt. Stolz zeigt er auf seinen Kassencomputer, der wohl auch Musik kann. Ich frühstücke bröselnd Kekse in der Sonne, was einen nahegelegenen Hühnerhof rebellisch macht, und zwei Prachthennen glucken heran und lassen sich von mir füttern. Die beiden deutschen Frauen von der Post haben es auch über den Pass geschafft und langen am Laden an. Wir gehen ein Stück zusammen: Scheidung, Trennung, immer die gleiche Geschichte. Und jetzt haben sie auch noch Sonnenbrand.

Es ist eine leichte Etappe nach Zubiri. Im Morgenregen erreiche ich eine Kirche aus der stakkatoartiges Englisch klingt. Ein Brite hat auf dem Camino de Santiago nicht nur seine Liebe gefunden, sondern auch eine Lebensaufgabe: Er restauriert das Kirchlein, und hat sich hinter die Altarwand durchgearbeitet: Dort steht ein uraltes Gemälde aus der ersten Zeit der Kirche, das seiner Ansicht nach die Himmelstür darstellen soll. Die Tür trägt rechteckige Felder mit Fingertupfen drauf, von denen er glaubt, dass sie die Familien aufgetragen haben um zu zeigen, dass sie das Himmelreich erlangen sollten. Darüber sieht man ein Jesus- Kreuz, das mit mit einem Andreaskreuz gewissermaßen gekreuzt ist. Das interpretiert er als heidnisches Symbol. Beim Fachsimpeln vergeht die Zeit. Nun bin ich 1500 Kilometer gewandert und finde die Tür zum Paradies in einer halb verfallenen Dorfkirche. Der Himmel hat aber über den Mittag geschlossen, also muss ich weiterwandern.

Die Tür zum Paradies: Heute geschlossen

„Oberbekleidung fehlt noch“! Treffe auf die zwei Berliner: Weil der Weg mit weggeworfenen oder vergessenen Klamotten gespickt ist, macht sich die Frau den Spaß, die Sachen zu fotografieren, so lange, bis sie einen kompletten Pilger beisammen hat.

Ich pflücke den Mädchen Rosmarin, die sie sich in die Haare stecken. Versuche zu erklären, dass man es eher zum Kochen als zur Dekoration nimmt. Ein Belgier, der die Zeit zwischen seinem alten Job als Autoverkäufer und seinem neuen Job als Verkaufsleiter in Turin eine Auszeit genommen hat, schließt sich unserem Tross an. Ich erkläre ihm, dass ich früher mit meiner Mutter auf dem Markt immer Suppe verkauft habe und sein Herz schlägt schneller. Ja, ein Marktplatz, dass ist das Urbild aller Geschäfte. Er hat eine nachahmenswerte Sitte: Alle fünf, sechs Jahre, wenn die Bude wieder komplett mit Kruscht und Nippes vollgestellt ist, räumt er alles aus, geht auf den Flohmarkt, hat einen ganzen Tag lang Spaß mit seinen Kumpels und am Ende 2000 Euro in der Tasche.

Unterdessen finde ich die seltenste Blumen des Universums. Eine Orchidee, mit gelben Blättern, die wie eine Biene aussieht. Ich kann sie nicht googeln, komme immer bloß beim Bienenragwurz raus, aber der ist es definitiv nicht. Wir wandern durch höhlenartige Wälder, dickes Moos, Buchsbäume umschließen uns völlig, da wo der Buchs zurücktritt, erstrecken sich Blumenwiesen aus Ginster, Rosmarin, Hornklee, und Orchideen. Schließlich werden Ausblicke frei, auf ein Meer aus baumbestandenen Hügeln. Ich bin wieder allein und wäre beinahe über Amy Winehouse gestolpert, die mitten im Weg liegt. Erst denke ich, sie ist hingefallen, dann merke ich, dass sie das Licht- und Schattenspiel der Buchenblätter so faszinierte, dass sie nicht mehr weiter wollte.
Mir wird klar, dass der größte Teil der Menschheit den Begriff Wald höchstes aus Grimms Märchen kennt. Schlafe selig auf einer Wiese, jetzt in Spanien wäre es geradezu unanständig keine Siesta zu halten. Ein Pilger sagt, mittags wandern bloß mad dogs und Engländer. Er war Ire, glaube ich.
Es wird wieder steiler, ich zeige Amy, wie man über die Felsen tanzt. Sie versteht zwar, dass dieses Gehen die Knie entlastet, aber nicht, dass die Gebirge großartige steingewordene Symphonien sind, und die Täler, ein Wortspiel zischt mir durch den Kopf, wie große Walzer von Chopin der Strauss.Das erste was ich in Zubiri sehe, sind Pilger, die auf dem Dorfplatz sitzen und von einem betrunkenen Kolumbianer mit Wermut on Ice abgefüllt werden. Schmeckt gut das Zeug. Der Kolumbianer, so der Typ laufender Meter, setzt sich in Szene. Er kann allen ein Quartier besorgen zückt wichtig sein Handy und alle wissen, wie das ausgeht. Zubiri ist völlig überlaufen, die Gites sind komplett belegt. Ich finde einen Platz, den letzten wie es aussieht, will ihn gentlemanlike den Israleinnen anbieten, die aber ablehnen, weil sie zusammen bleiben wollen, der Belgier lehnt auch ab. Wahrscheinlich denken sie, so einem alten Mann wie mir sollte man doch den Vortritt lassen. Denen zeig ich’s.

Höhlenartige Wälder

Im Gite lehnt ein lustiger Südafrikaner an der Wand. Brite von Geburt, Mütze und Vollbart, erkennt meine Rotweiß gestreiften Kniesocken wieder, die ihm in St. Pied de Port aufgefallen sind. Ich denke an meinen Ex-Zimmer-Nachbarn Oliver Maria Schmitt und frage den Briten, ob er beim Ernest Hemingway Look Alike Contest mitmacht. „Nein“, sagt er, er sei Santa Claus.
Er erzählt die Geschichte, dass mal Charly Chaplin auf einen Charly Chaplin Look Alike Contest gegangen ist und prompt verloren hatte.

 

19.05

Zubiri – Pamplona

„Ich konnte nicht schlafen wegen dir!“, klagt die Koreanierin, die das Stockbetten unter mir hatte. Umgedreht kann ich nicht behaupten, dass ich wegen ihr eine schlaflose Nacht gehabt hätte. Cultural Clash, oder wie das heißt.

Morgens ist Gabriel da und verteilt Rosinen: Wir reden über unsere Wege. Ich sage, wir dürfen nicht zulassen, dass wir das Kostbarste, was uns gegeben ist, unsere Lebenszeit ummünzen zu Geld, das wir nicht ins Grab nehmen können. Weil er so fest an Gott glaubt, ist das Leben für ihn unendlich. Deswegen sagt er, die Lebenszeit ist egal, für ihn zählt allein die Liebe: „Das ist das wichtigste“
Er empfiehlt, den Jakobus-Brief zu lesen. Mach ich dann auch, finde Worte darin, die er zu mir gesagt hat und einen interressanten Gedanken: Gott würde dich nie versuchen, schreibt Jakobus, das hieße die Sünde gehe immer vom Menschen aus. Das würde heißten Gott ist zwar allmächtig, aber stellenweise ist ihm seine Allmacht herzlich egal. Der Big Brother God, der alles sieht war mir immer schon ziemlich unsympathisch.
Es wird wieder wärmer. Die letzte Strecke nach Pamplona geht durch Niederwald, in dem ein Spanier auftaucht, der mir eine Cola-Büchse aus dem Wassereimer verkauft. Er ist seit fünf Jahren arbeitslos, sagt er, und so sieht er auch aus. Das Hemd von der Sonne gebleicht und durchbrochen. Als drei Australier vorbeikommen, bedeute ich Ihnen, sie sollen auch was kaufen, was sie dann auch folgsam tun. Mir wird die Rolle der Kirchen klarer, es ist immer leichter, andere anzuhalten gute Werke zu vollbringen, als selber welche zu tun.

Die Straßen: Geradezu meditierend pilgere ich durch die Vorstädte von Pamplona. Der Staub der Städte dringt nicht durch zu mir. Große Muscheln prangen auf der Straße wie auf einem Radweg.

Während ich das in der Hemmigway Bar in Pamplona schreibe, schneit ein Gestöber Spanier in die Stube und macht, was es am besten kann: Krach.

Pamplona, in den Wolken. Eine prächtige Altstadt aus schachteligen Häusern, mit großen Fenstern und Balkonen, feinfarbigen Fassaden, die oft nur zwei Fenster breit sind. Die Straßen sind riegelartig um die Kathedrale angeordnet und die Altstadt ist fest in der Hand von betrunkenen Autonomen, denen es vor allem ums Trinken und die Autonomie des Baskenlandes geht. Junge, junge eine quirlende, lebenslustige Stadt, Tübingen mal zehn ohne Handbremse. Ich muss mit meinen Ringelsocken irgendeiner Comic-Figur gleich sehen, jeden falls rufen die Jungs mir immer „Wally“ oder „Willy“ nach. Mit Besoffenen kann man am leichtesten Spanisch üben, weil ihre Grammatik ähnlich rudimentär ist, wie meine. Mitten im Hauptplatz prangt eine Bar, die Ernest Hemingway wohl öfters besuchte, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er die anderen Bars ausgelassen hätte. Ein Bronzener Hemmingway lehnt am Thresen und wir kommen ins Gespräch, fachsimpeln ein wenig,wie man eine Szene anfängt, wo die Grenze der Adjektive ist, einmal solche ersten Sätze finden wie er. Seine großen Geschichten mit seinen kaputten, impotenten, zum Sterben verurteilten Helden, deren letzte Tage er nachzeichnete, bevor sie in den endgültigen Ruin trieben. Warum man ausgerechnet seinem Werk Machismo unterstellte, ist mir auch so ein Rätsel. Ein Polizeibemter und seine Tochter leisten mir Gesellschaft. Das übliche: Die Leichen, die Intrigen. Die Bauernopfer auf der Führungsebene, wenn die Politik Mist baut, die Beharrlichkeit, das ausgesetzt sein, rennen, wenn es brennt.

Mensch Ernest: Den ersten Satz von Inseln im Strom hättest Du doch gendern müssen!

Wir schlafen in einem Schlafsaal mit 140 Betten. Jesus und Maria. So heißt das Hostel.

Der Schlafsaal im Jesus y Maria

Mein Jakobsweg, mon Chemin Teil 11

10 . 5

Auvillar-Condom

Eine längere Etappe in die Gascogne, in das Städtchen Condom. Die Zahl der Einwohnerschaft von Condom ist in den letzten 120 Jahren nahezu gleich geblieben, sagt Wikipedia. Das war jetzt mal subtile Satire, ihr Ziegenficker.

Die Landschaft wird zunehmend flacher, Bodenwellen mit kurzer Frequenz für meine bescheidenen Fahrradkräfte ideal. Ich schiebe die Bückel hoch und lasse es bergab krachen, damit schaffe ich einen guten Zehn-Kilometer-Schnitt pro Stunde.

Ich werde zum gern fotografierten Motiv
Ich werde zum gern fotografierten Motiv.

Eine Menge Gangster gibt es hier in Condom. Oder habe ich den letzten Traction Avant Discounter entdeckt

Eine Menge Gangster gibt es hier in Condom. Oder habe ich den letzten Traction Avant Discounter entdeckt

Musketier mit Muskekater
Musketier mit Muskekater
Zwei Lastwagenfahrer versuchen, mich zu romantisieren. Oder sagt man frankieren?
Zwei Lastwagenfahrer versuchen, mich zu romantisieren. Oder sagt man frankieren?
Britisch anmutende Fachwerkhäuser
Britisch anmutende Fachwerkhäuser
Baum mit Wasseranschluss
Baum mit Wasseranschluss

Die Cascogne ist die Heimat von berühmtem Weinbrand und von d’Artagnan, dem vierten Musketier. So sehr ist die Literatur hier Wirklichkeit geworden, dass sie den vier Musketieren ein Denkmal gesetzt haben, als hätten sie wirklich gelebt. Lasse mir den Buchtitel auf der Zunge zergehen: Die drei Musketiere, welche Kühnheit, die Geschichte nach den Nebenfiguren zu benennen. Sehe schon wieder die deutschen Verleger vor mir: „Drei Musketiere, geht ja gar nicht, warn doch vier, muss heißen vier Musketiere.“ War Dumas der erste, der das Artus-Motiv wieder eingeführt hat in die Literatur? Ritter vom Lande kommt in die Tafelrunde, und muss sich da bewähren, ein Motiv, das bis zu den Star Wars Filmen die Kassen fühlt. Und dann das Wettrennen gegen den Brief, genial, um Spannung zu erzeugen. Nochmal gut gemacht bei Bram Stokers Dracula und Patrik Süßkinds Parfum. Lustigerweise aber immer erst so gegen Mitte der Romane. Als hätten die Autoren gemerkt, wenn ihnen jetzt nichts einfällt, dann wird es richtig langweilig.

Das letzte Rätsel aber bleibt ungelöst, so wie immer: Warum zum Henker sind die drei Musketiere durch ihre Fechtkünste berühmt, während ihr Name sie doch als Besitzer von Musketen, von Feuerwaffen ausweist?

Habe wieder meine Gleichungen im Kopf und während des Ruhetages eine absolut Schöne und Vollendete entdeckt. Einen aus einem Kreisabschnitt geformten Ring, den ich mit Zirkel und Lineal in einen Kreis und damit auch in eine Kugel umwandeln kann. Mit dem Kugel und dem Ring wäre das Tao der Chinesen und die Welt Platons eins. Die Gleichung könnte ich über das Schlusskapitel des Felsentänzers stellen. Ich beschließe, damit meine Forschungen abzuschließen. Vielleicht auch das der Sinn des Pilgerns: Dinge zuende denken.

In St. Antoine pilgert der Pilger durch ein gotisches Stadttor vor die Antonius-Kirche und den Platz des Tau. St. Anton, der Schutzheilige der Surrealisten.

Dem Straßencafé in St. Antoine kann man einfach nicht ausweichen. Ein Elsässer mit lebhaften Augen und Mimik erinnert mich an meinen Vater. Schön sei es in Frankreich“, sage ich und er antwortet: „überall ist es schön. Man muss nur die Zeit haben.“ Wir reden über die letzten Tage der Wehrmacht im Elsaß und seinen Vater, der zur Waffen SS gepresst wurde, und nur überlebt hatte, weil in der amerikanischen Einheit, die ihn gefangen nahm, auch ein Elsässer war. Ähnliche Geschichten in meiner Familie. „Ich fühle mich zuerst als Elsässer, dann als Rheinländer, dann als Franzose“, sagt er. Die Wirtin holt eine Kiste mit Erdbeeren, gegen eine kleine Spende kann man sich ein Schälchen nehmen

Im Gite von Condom zeigt mir ein kleiner rothaariger Kerl, wie man mit einem Küchendegen Büchsen öffnet. Er rammt das Messer rein, und schneidet den Deckel auf. „Wie im Krieg“ sagt er, „ja, mit den Bajonetten“, erwidere ich. Zwei alte Krieger, die sich verstehen, obwohl sie nie gedient haben. Vielleicht deswegen.

Im Gite von Condom
Im Gite von Condom

Ich frage, ob man den Cognac vor oder nach dem Essen trinkt. Die Leute im Gite erklären mir, nach dem Essen, und ich mache mich auf in die Stadt, einen zu trinken, nicht ohne die ernstliche Ermahnung mitzunehmen, hier in der Gegend bloß keinen Cognac zu bestellen. Das hieße Armagnac.
Schwer und holzig schmeckt der Armagnac. Herrlich.

11.05.

Condom-Manciet

Pläne, die nicht funktioniert haben:

8 Stunden laufen, 2 Stunden täglich schreiben

Unter 91 Kilo Lebendgewicht kommen

Die ganze Strecke zu Fuß machen.

Pläne, die funktioniert haben:

Auf dem Weg zu bleiben.

Daraus abgeleitet, könnte man die Kantische Philosophie für die Wallfahrer tauglich machen: Der gestirnte Himmel über mir und der Weg unter mir. Flugs einen Philosphischen Führer für Pilger geschrieben und damit ein Vermögen verdient.

Mir wird eine der ganz großen Stärken des Weges bewusst. Er ist der einzige Verbindung der weltweiten Outdoor-Kultur mit der Religion und der Kirche. Denn dass auch diese Outdoor-Kultur, wie jede eigentlich, verzweifelt nach Glauben sucht, sieht man ihrer Erfindung des fliegenden Spaghettimonsters und den Gebetsfahnen, die sie sich überall hinhängen. Auf dem Weg aber können sie ihren alten Glauben zelebrieren und trotzdem campen.

Werde nun schon zum zweiten mal fotografiert, haben die noch nie einen Pilger mit abgeschabter Kniebundcordhose, rotweißen Ringelsocken, Strohhut, Pfadfinderhemd und Klapprad gesehen? Ich glaube, es ist wegen des Klapprades. Das finden die Franzosen wirklich lustig.

Im Gite von Condom gibt es eine Waage und ich erlebe sozusagen mein Waageloo. Ich bin auf 91 Kilo, aber vollgetankt mit Wasser und Lebensmitteln bringe ich es insgesamt auf 108 Kilo. 17 Kilo zusätzlich!!!! Kein Wunder, dass meine Knochen streiken. Ich wiege meine Stiefel und stelle fest, dass die alleine zwei Kilo ausmachen. So schwer waren die doch früher nicht? Haben die Fritzen mir beim Besohlen Eisenplatten aufgenagelt? Wenn ich die Jacke wegwerfe, ein Kilo. Wenn ich den Kleiderbestand auf das allernötigste reduziere, vielleicht noch ein Kilo. Aber wenn ich die Schuhe zurückschicke zwei Kilo. Ich gerate nun in einen echten Gewissenskonflikt. Den Weg alleine mit Turnschuhen fortzusetzen, erscheint mir zu riskant, und ich war oftmals mehr als froh, um die guten Schuhe. Sie blieben trocken im Tau, im Regen, im Schnee, schützen vor Felsen und den unvermeidlichen Karambolagen mit den Pedalen des Fahrrades. Aber zwei Kilo weniger!

Vielleicht finde ich unterwegs ein Geschäft, das Trekkingschuhe Größe 46 führt. Auf dem Weg aber Schuhe einlaufen ist auch kein Spaß. Ich nehme mir vor rauszufinden, wieviel Treckingschuhe wiegen, vielleicht ist der Gewichtsunterschied nicht so gravierend, und es bliebe vernünftig, die Bergstiefel zu behalten.

Menschen: Die Leute hier haben Humor, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich die Witze immer richtig verstehe. Ein Mann im Garten: „Geht’s?“ „Ja, geht so,“ „Ca monte – es steigt an“, sagt er. „Ja ziemlich“. „Brauchste einen Monteur?“

Ein ganz alter Mann hat drei Hunde, die mich ankläffen wie verrückt. Ich bleibe stehen, habe keine Lust wieder verfolgt zu werden: „Wo kommst Du her?“ „Aus Deutschland,“ „Wie ganz alleine?“ Ich zeige zum Himmel: „Nicht ganz alleine.“ Der alte Mann lacht: „Ja der, und dein Telefon!“

Werde also den Rucksack so leicht wie möglich machen und die Bergschuhe über die Pyrenäen behalten, dann in Pamplona mich noch mal neu organisieren. Vermutlich muss ich dort auch entscheiden, ob ich überhaupt weiter kann. Aber das alles ist neblige Zukunft. Auch das lernt man beim Pilgern: Nicht weiter denken, als bis zur nächsten Etappe. Überhaupt habe ich völlig aufgegeben, mich an den Etappen des Reiseführers zu halten. Ich gehe bis 17, 18 Uhr und dann suche ich Quartier. Sonst bleibt man nicht in der Gegenwart, sonst zieht wieder die Zukunft, irgendwelche Pläne, die man hat. Sechs Wochen habe ich gebraucht um aus dem rasenden Getriebe zur Zeit, in eine Gegenwart zu kommen, in der hier bin und jetzt.

Dass ich nicht mehr an Körpergewicht verliere, ist nicht zu ändern. Um wirklich Fett zu verbrennen, müsste ich in den Etappen an die Erschöpfungsgrenze gehen. Dann aber würden die Knochen.
streiken. Weniger Essen geht auch nicht, hätte wohl den Effekt, dass ich früher an meine Erschöpfungsgrenze komme, und dann könne ich nur noch ganz kleine Etappen machen. Ich will ja aber auch irgendwann mal ankommen.

Jetzt erstmal in Larresingle rasten. Was ich für ein halbwrackes Betonwerk gehalten habe, ist in Wirklichkeit eine schmucke Burgruine mit allerlei Boutiquen und Cafés. Dort trinke ich einen Armangnac. Ist viel besser, als der ständige Kaffee. Kaffee entzieht ja Wasser, zumindest den Wasserleitungen. Der Armagnac ist schön schwer und füllt einen mit Ruhe und großer Zufriedenheit.

Hat aber mit dem Weinbrandzeugs, das ich in Deutschland nicht mal mit der Eiszange anrühren würde, so rein gar nichts zu tun. Zwei Allgäuerinnen erscheinen, wir verplaudern in einer höhlenähnlichen Bar die Zeit, im Nebenraum brennt ein Kaminfeuer, eine schwangere Katze miaut.

Seit tausend Jahren wandern die Pilger über dieses Brücklein.
Seit tausend Jahren wandern die Pilger über dieses Brücklein.

Gewitter ziehen auf, zerfetzte Wolkenknoten fasern aus, öffnen sich zu Regenvorhängen, während ich über feldwegbreite Landstraßen rolle an wilden mannshohen Senf- und Rapspflanzen vorbei, über eine Brücke aus dem 11. Jahrhundert rein in die Gewitterfront, ein Bushäuschen schützt mich.

Mannshoher Raps.
Mannshoher Raps.

 

Eine fette schwarze Spinne seilt sich von meinem Hutrand ab, reflexartig donnere ich sie gegen die Mauer. Wenig später kann ich weiter. Aber nur kurz. Die nächste Regenfront überrollt mich gegen 14 Uhr, völlig durchnässt schaffe ich es unter das Dach eines Genossenschaftsgebäudes, ein größerer Fuhrpark, zerfetzter Boden, eine Pumpe steht ohne Anschluss herum, nackte Mauersteine, die nichts stützen, Maschinenteile, Rohre. In dieser Nässe, in diesem Ausgesetzt sein, in der Ungewissheit wann und wie es weitergeht, kommen mir endlich die Worte, auf die ich so lange gewartet habe und ich kann die Schlüsselszene der schönsten Kindergesichter der Welt ins nasse IPad tippen. Etwas wuselt über meine Oberschenkel, reflexartig wische ich die Spinne weg, und dann sehe ich dass, es die Schnauze des Hofhundes war, der mich beschnüffelte. Wir beschließen, uns nichts zu tun, und ich fahre weiter.

Die Straße nach Nogaro ist zu befahren, zu gefährlich für mich, und auch zu gefährlich für die Autofahrer, wenn sie mich überholen. Wenigstens bremst eine Baustelle die Lastwagen. Ich finde einen Weg über eine alte Römerstraße. Der Wald leuchtet. Umgestürzte Bäume ruhen wie Saurergerippe darin. Der Adlerfarn breitet die Schwingen. Jetzt dicht und grün. Ich merke, dass ich die Etappe nicht schaffen werde, aber rolle weiter, der Fahrtwind trocknet meine Jacke und ich komme jetzt in schönem Wetter nach Manciet.

"Die Gästedusche ",sagt der baumlange Rugby-Spieler
„Die Gästedusche „,sagt der baumlange Rugby-Spieler

Ein baumlanger ehemaliger Rugby-Spieler hat hier ein wunderschönes Gite eröffnet, in dem ich der einzige Gast bin. Wunderbar. Nach den Gesichten über den Weg und den Zweiten Weltkrieg, erzähle ich von dem Weg, den ich vor 25 Jahren gemacht habe und dass ich in Condom beinahe einen Cognac bestellt hätte. Daraufhin holt er einen 25 Jahre alten Armangnac vom Dachboden und bringt mir bei, wie man trinkt. Im Glas schwenken und dann mit den Fingern wärmen. Wir reden über Sport, Beziehungen, über Rugby und es ist alles sehr einfach.

„Du brauchst keine Schlüssel“, sagt er, „weil ich nicht abschließe. Nimmst halt dein Geld mit.“

„Passt schon“, sage ich.

„Essen ist bei Monique“,

„Alles klar.“

Ich gehe zu Monique, werde zu zwei Lastwagenfahren an den Tisch gesetzt und bekomme gut gewürztes Rindfleisch mit Nudeln und Salat mit Toast. Ich lade die Lastwagenfahrer zum Armagnac ein und erzähle meine Geschichte mit dem Cognac. Die ganze Kneipe lacht.

12.05

Manciet – Arzacq-Arraziquet

Morgens brät der Riesenkerl mir auch noch Spiegeleier und gibt mir noch nen Kanten Brot mit. Er hat wirklich ein Riesenherz. Ein desolat gekleideter alter Mann kreuzt auf zum Kaffee-Trinken, zwei zerrissene Hosenbeine, löchriger brauner Pulli, Strickmütze und darunter eine Versammlung von langen weißen Haaren. Wo ich her sei. „Ach in Tübingen war ich Soldat“, sagt der alte Mann, „hat Tübingen nicht in der Provence ne Partnerstadt?“, fragt er. Ich muss überlegen. Aix-en-Provence? Und er hat ne Menge Erinnerungen an Tübingen und viele Gute. Aix-En-Provence muss wohl hier in der Nähe sein. Jedenfalls würde es erklären, warum ich überall Plakate des Ernst Bloch Chors Tübingen sehe, der die Gegend unsicher macht.

In der Kirche von Nogaro nehme mich Zeit für Gebete und dann radle ich eben weiter nach Westen. Wein, Wiesen, Weizen, einzelne Zedern und Zypressen ragen vor Gehöften auf, die untypisch für Südrankreich, als Fachwerkhäuser gebaut sind. Sind das wieder die englischen Einflüsse? Zwei Hunde verfolgen mich, blöderweise geht es bergab, und sie interpretieren meine Beschleunigung als Fluchtreflex und verbeißen sich im Rucksack hinten drauf, muss ganz schön am Lenker ziehen, damit es mich nicht umreißt, dann geben die Mistviecher auf. Unten stehen die ersten Eukalyptusbäume. Die Gegend heißt Bearn, und gibt es jetzt richtige Ebenen, ich kann sogar mal ein paar Meter eben aus rollen, aber ich merke wie müde ich der Radlerei bin. Ich will zurück auf den Weg und es sieht gut aus. Beim Schieben merke ich, dass ich den rechten Fuß zeitweise ganz normal abrollen kann. Noch zwei Tage bis St Jean Pied de Port. Ich kaufe schon mal Panzerband für die Verpackung Des Fahrrades. Ein alter Mann lädt mich zu einem Glas Wasser ein, spätabends erreiche ich Arzacq-Arraziquet. Der Weg ruft.

Eine blonde Frau spricht jeden in der Pilgerküche des Gites an, der da rumhängt. Sie ist in einer echter Lebenskrise, wie viele auf dem Chemin. Ihr alter Job als Rezeptionistin gefällt ihr nicht mehr, sie kann da nicht weiterarbeiten, weiß nicht was machen, und jetzt geht ihr langsam das Geld aus. ich muss noch meinen Rest Spaghetti kochen und erkundige mich nach ihren Interessen. Ich mache ein Profil, sage sie soll Grundschullehrerin werden, ja Kinder mag sie. Ob ich Psychologe sei. Nein, sage ich Journalist. Da hat man es vermutlich mit genauso viel Verrückten zu tun. Bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht auch dazu gehört. Als sie mit Sternbildern und so Zeug anfängt, klinke ich mich aus und gehe Bier trinken.

Im Gite ist ein Typ, der mich an meine Freund Martin erinnert, eigentlich ein Double ist. Wir reden über Nietzsche und Indogermanistik, er hat Deutsch gelernt als Jugendlicher, spricht aber nichts mehr, hat nur gereicht, dass er den Spitznamen Fritz the Cat bekommen hat und einen Job bei der Allianz. Sein Nachname lautet deChat. Was er dadurch erklärt, dass er von Chatten abstamme, die wohl auch bei Lille gesiedelt hätten, wo er herkomme. Ich erkläre ihm, dass Fritz the Cat ein Underground Comic von Robert Crumb ist, und das genügt, dass er sich den Rest des Abends in sein Handy vertieft.

13.05

Arzacq-Arraziquet – Navarrenx

Sehr schwere Etappe nach Navarrenx. Vier mal bis auf die Knochen nass geworden:
Die Landschaft wechselt mit sehr steilen Anstiegen und dito Abfahren, in den Kurven liegt Rollsplitt, ich muss immer höllisch aufpassen.

In einer Fabrikruine untergestellt: 20 Minuten,
in einem Car-Wash untergestellt: 30 Minuten (Irgendwelche Leute treffen sich da und tauschen Briefe, die sie sich durch das Fenster reichen).
im McDonalds untergestellt: eine Stunde (aber mit Internet!).
In einem Restaurant untergestellt: eine Stunde.
Unter einer Eisenbahnbrücke untergestellt: 30 Minuten.
Macht also: 4 Stunden trocknen und etwa 6 Stunden nass werden.

Warum tue ich mir das an? Damit es endlich vorbei ist, lautet die Antwort für heute. Im Süden sind die Straßen eng und die Autos schnell, und wenn die Straßen viel befahren sind, dann ist das Radeln kein Spaß mehr. Ich beschließe, morgen unter allen Umständen St. Jean Pied de Port zu erreichen, einfach damit es vorbei ist und dann nach ein paar Ruhetagen meine Wanderung wieder aufzunehmen.

Im Gite sind Briten, die den Weg stücklesweise gehen, wie die meisten, ein wuseliger Amerikaner aus Houston, Texas, der schon den Appalachen-Trail gemacht hat, damit etwa 3000 Kilometer. Man braucht wohl ein halbes Jahr dafür. Ein junger Kerl zieht los, den Priester zu suchen. „Willst Du Beichten?“ „Nein“, sagt er, „ich will ihn nach Gott fragen.“

Er ist ganz im Weg drin, ich beneide ihn ein wenig, mein Weg verschwindet gerade. Morgen noch überstehen. Wir reden über die Idee des Prima Causa, ein alter Gottesbeweis. Sollte die Welt auf Kausalitäten aufgebaut sein, dann wäre Gott die erste Ursache, aus der alles folgte. Doch was war vor Gott? Hier hören die Kausalitäten auf. Wie immer man sich Gott denkt, kommt man immer außerhalb der Ratio. Ich sage dem Jungen, dass es auf viele Fragen keine Antwort gibt.

Nachts sprüht Regen durch Navarrenx. Eine alte Bastide, nicht nur mit Stadtmauern, sondern auch mit Stadtgraben, es gibt Trappisten-Bier.

Irgendwann morgens schlafwandelt der junge Gottsucher, steht auf und schreit fürchterlich laut herum. Ich schreie zurück und dann ist Ruhe. Armer Kerl.

Mein Jakobsweg, mon chemin, Teil 10

Die Häuser springen aus aus den Felsennischen vor.
Die Häuser springen aus den Felsennischen vor.

6.5

Figeec – Cahors

Yuppies hießen die Typen. Damals Ideale einer neuen Zeit, heute auf dem Müllhaufen der Geschichte. Geht schnell. Ich benutze das Lot-Tal als Ausflugsschneise vom Südwesthang des Zentralmassivs. Der Rückenwind schiebt mich nach Cahors, das örtliche Zentrum mit einer riesigen mittelalterlichen Brücke, einer Kirche, die von Kuppeln überspannt ist, und absolut schlechten Erdstrahlen. Es war aber auch eine lange und heiße Etappe. Das Wetter ist jetzt gut, die Temperaturen sind bei 25 Grad und die Landschaft rollt sich sommerlich die Straße entlang. Triviale Hahnenfüße, Wiesenkerbel, Baldrian, Zaunrüben. Aber es wachsen auch Feigen, Korkeichen und Zedern im Wald, der Lot trägt jetzt Jachten. Mich überholen lange Konvois von Motorrädern und Wohnmobilen, die Straße ist halb aus dem Fels gehauen. Tunnels, in denen Wasser auf mich herabtropft und Ruinen von mittelalterlichen Befestigungen.

Preisfrage. Wenn die Schrift eines Fahrrades, das auf der Nordhalbkugel unterwegs ist, links mehr ausgeblichen ist wie rechts. In welche Himmelsrichtung es dann hauptsächlich gefahren?
Preisfrage. Wenn die Schrift eines Fahrrades, das auf der Nordhalbkugel unterwegs ist, links mehr ausgeblichen ist wie rechts. In welche Himmelsrichtung es dann hauptsächlich gefahren?

Mein IPhone, das Weich-I hat das titanische Ringen des menschlichen Willens mit den Gewalten der Natur aufgegeben und lässt sich nicht mehr laden. Nun muss die Sonne die Uhrzeit und die Himmelsrichtung anzeigen. Das geht auch, vor allem, wenn einem die Uhrzeit bien egal ist und der Lot die Richtung vorgibt.

Das Office du Tourisme in Cahors schickt mich zu einer Jugendherberge nahe am Hauptboulevard der Stadt. Eine ziemliche Ruine. Die Tapeten hängen in Fetzen, vermutlich um es dem Plastikboden gleich zutun und sich nicht allzusehr vom Lack der Fensterrahmen zu unterscheiden. Einsamer und bisschen blöder Abend in Cahors, wie gesagt, die Stadt hat schlechte Erdstrahlen. Es gibt aber Internet und ich finde heraus, dass an meinem Handy der Connector kaputt ist.

Die große mittelalterliche Brücke in Cahors.
Die große mittelalterliche Brücke in Cahors.
Flatiron-Building in Cahors
Flatiron-Building in Cahors

7.5
Cahors – Lauzerte

Am Morgen sind sich wieder alle einig: Ttip ist scheiße, die Energiewende krankt an den Leitungen, das Wasserstoffauto ist viel besser. Wir – das sind zwei Holländer, eine Deutsche, die in Paris lebt, ein Schweizer und ein Franke. Wie gleich die Europäer denken! Denke etwas verschnupft, wenn 90 Prozent der Bürger gegen dieses Ttip sind, und die Regierung das umsetzt, dann ist das keine Demokratie. Nun ja, die Regierung Merkel ist so tot wie eine Hotelbar nach elf Uhr. Einen guten Satz hat der Holländer drauf, nachdem er mir erklärt hat, er sei Chef einer Kooperative, die in seinem Stadtviertel Solaranlagen errichtet. „Um das Ganze ein bisschen zu kompensieren, fahre ich gerne Dampflok. Neulich von Utrecht nach Dresden mit 140 Stundenkilometern.“

„Ein Vogelfänger bin ich ja, heida hi da hopsasa“; trällere ich mit einem herrlich durchgeknallten Franzosen, als ich durch die Cahors radele. Er hat im Orange-Geschäft mitgekriegt, dass ich einen Laden suche, um mein Handy reparieren zu lassen und geleitet mich ins Centre Commercial, wo ein Riesen-Supermarkt das Gebiet dominiert. Leclerc heißt er, der Supermarkt. Der Mann heißt anders, so wie eine berühmter Feldherr aus dem 100-jährigen Krieg. Meine Tochter heißt Johanna sage ich. Er kann anhand der Uhrzeit und der Richtung des Kondensstreifens sagen, welcher Flieger gerade unterwegs ist. Er trägt eine schwarze Radlerhose und eine orangene Warnweste, graue lockige Haar, schlechte Zähne und ein markantes gespaltenes Kinn. Ob ich das wisse, dass Charles de Gaulle nach dem Krieg deutsche Kriegsgefangene angefordert hat, um Minen zu räumen am Atlantikstrand, jeden Tag seien zehn verhungert, 5000 seien gestorben. „Aber die offizielle französische Geschichtsschreibung weiß davon nichts“ sagt er. Er glaubt, dass die Marseillaise von Mozart inspiriert sei. Als ich sage, dass die deutsche Nationalhymne ein Haydn Streichquartett sei, kontert er mit einem trockenen „Opus 62“, ob ich wisse, dass Haydn das Quartett erfunden habe. Er erzählt, er habe alle Quartette von Beethoven, und dann schweigen wir ein Weilchen im Gedenken an den Titanen. Dann zieht er das Mundstück einer Posaune aus der Tasche und spielt darauf die Vogelfänger-Arie, bis sich die Kinder umdrehen. Herrlich. Von ihm erfahre ich warum, es so viele Briten in der Gegend gibt: Hier in den Chausses hatten sie große Stützpunkte während des Hundertjährigen Krieges und würden sich deswegen mit der Gegend verbunden fühlen. Außerdem würde sie das kalkige Hügelland mit den in Felsvorsprünge gebaute Steinhäuser an Cornwall erinnern. Er sucht dann den Supermarkt nach einem Klapphändy unter 40 Euro ab, kehrt erfolglos zurück und lässt mich dann weiter durch alle Lande ziehn, bis hinter mir die Pflasterstein glühn.

Im Supermarkt will ich mit Bargeld zahlen, doch das ist unmöglich! Es gibt keine Bargeldkasse mehr, es gibt sogar mehrere Schalter, wo man die Ware selbst einscannen muss und dann mit Karte zahlt. Eine freundlich lächelnde Aufsicht guckt, ob keiner was klaut.
Mir wird klar, dass wir durch die Abschaffung des Bargeldes komplett in die Hände der Banken geraten würden, denn wir könnten nicht mehr die Banken damit in die Schranken weisen, dass wir unser Geld abheben und unter dem Kopfkissen verstecken. Da gibt es genau soviel Zinsen und man spart sich die Kontoführungsgebühr. Ohne Bargeld könnten die Banken mit uns machen, was sie wollten, sogar noch Geld dafür verlangen, dass wir ihnen unsere Kohle anvertrauen. Sollte jetzt wohl einen Smiley malen.

Ich kaufe mir Madeleines um nicht an die verlorene Zeit an diesem Vormittag zu denken, und proste mir Orangensaft zu. Ja der Witz musste jetzt sein, echt.

Ich fahre an felsigen Kalkhügeln vorbei, die mit niederen Eichen bestanden sind. Sie wirken wie verbrannt und sind wahrscheinlich auch die Überreste von Feuern. Flugs ein interdisziplinäres Forschungskolloqium einberufen, über die die ökologische Nische der Eichen, als der am meisten feuerresistente Baum Mitteleuropas, und dem offensichtlichen Widerspruch des Germanischen Glaubens, die Eichen bei Gewitter zu meiden. Dazu noch eine Gewitter – App in Auftrag gegeben, die punktgenau auf etwa einen Kilometer zeigt, wo es bei Gewitter am Gefährlichsten ist.

Lauzerte: So nen schönen Kaktus hatte ich auch mal. Seufz.
Lauzerte: So nen schönen Kaktus hatte ich auch mal. Seufz.

Meine Kräfte nehmen zusehends ab. Ich schaffe gegen einen schroffen Westwind gerade mal 30 Kilometer, dann kann ich nicht mehr im Sattel sitzen und schleppe mich mit allerletzter Kraft den Hügel hoch in das altes Wehrdorf (Bastide, heißen die hier) Lauzerte, aus dem Hundertjährigen Krieg. Die nette Hoteliere flößt mir einen ganzen Liter Wasser ein, dann erst lässt sie mich ins Zimmer. Tut gut, mal wieder ohne Mitstreiter schnarchen. Dann besteht die Hotelierin darauf, dass ich was Vernünftiges esse uns stellt mir drei, vier Gänge auf den Tisch. Im Salat ist mehr Fleisch als im Hauptgericht, die Suppenschüssel reicht drei Teller. Über steinerne Treppen, bestanden mit Kübelpflanzen, eine Aussicht über Zedern und die römischen Ziegeldächer, weiter hoch auf den Marktplatz. Wieder ein Traum von Kneipe, ein Lichthof zieht den Blick an gebogenen aus Blattfedern bestehenden Kunstwerken vorbei nach oben. Unten: Billardtisch, Schlagzeug auf der Bühne!

Unter den Steinen des Marktplatzes von Lauzerte wächst die Keramik.
Unter den Steinen des Marktplatzes von Lauzerte wächst die Keramik.

Darin improvisiert ein Pilger am Klavier Jazz-Melodien, sein Kumpel singt dazu, und die beiden mindestens sechzigjährigen Jungs schwingen so gekonnt die Hüften, dass es ihren karohemdigen Mitpilgerinnen die Brillengläser beschlägt.
Die Billardspieler bemühen sich, mir mit ihren Queus nicht die Augen auszustechen und draußen tanzt ein junger Artist mit dem Fahrrad über die Steinblöcke und Treppen des mittelalterlichen Marktplatzes. Ich spiele Bier-Billard und versenke gekonnt mehrere Gläser in meiner Kugel.

8.5

Lauzerte – Auvillar

Die Nacht Durchfall, wenn ich nur an das Essen im Hotel denke, dann könnte ich kotzen.
Entweder das Menü war nicht gut, oder das Wasser war verseucht, das mir die schreckliche Alte in diesem gräßlichen Hotel in jenem fürchterlichen Dorf eingeflößt hat. Entkräftet vom Wasserverlust komme ich 33 Kilometer bis Auvillar.

Ich verlasse die Chausse, heftiger Gegenwind, der mich wie mit einem Schlag überfällt und mich manchmal zwingt, auch auf der Ebene abzusteigen. Kurz vor Moissac passiere ich eine Feier zum 8. Mai nicht, sondern stelle mich dazu. Die letzten Versprengen in blauen Reservisten-Uniformen sprangen am Gefallenen-Denkmal und halten die Fahne hoch vor einer weißen Kirche. Die Marseillaise erklingt, dann Schweigen. Auf den Fahnen entziffere ich die Namen eines Gefangenen-Vereins, die Initialen der Republik Francaise. Nach der Schweigeminute Beifall, ich applaudiere mit, für einen Applaus zu Ehren eines Kriegers bin ich immer zu haben. Die Sprecherin erzählt, genau wie das jemand in Deutschland gemacht hätte, dass wir nie die Schrecken des Krieges vergessen dürfen.

Bloß: Hat das Gedenken an den Krieg je irgendeinen Krieg verhindert? Hat es Vertreibungen und Flüchtlingsströme verhindert? Hat es den Bau von Konzentrationslagern verhindert? Nein, ist die pessimistische Antwort, und ich frage mich, welchen Sinn diese Gedenkfeiern haben. „Auch wenn wir so wenige sind“, sagt die Sprecherin gerade und ich denke mir, vielleicht ist das die frohe Botschaft dieser Gedenkveranstaltung, dass der Zweite Weltkrieg nicht mehr wichtig ist in Europa. Aber dennoch, sobald ich ein bisschen tiefer mit den Franzosen ins Gespräch komme, irgendwann ist er wieder da und oft tauschen wir die Geschichten unserer Eltern aus. Wir sind alle Kinder des Krieges.

Wie also Kriege verhindern? Si vis pacem. . . Schrecklicher Satz, aber wahrscheinlich wahr.

In Moissac muss man den romanischen Kreuzgang ansehen, und vielleicht auch das italienische Café am Markt, das die Wände mit uralten Büchern auf noch älteren Holzbrettern dekoriert hat.

Im Kreuzgang von Moissac: Man konnte das A mit geknicktem Steg auch als Ligatur von A und M lesen.
Im Kreuzgang von Moissac: Man konnte das A mit geknicktem Steg auch als Ligatur von A und M lesen.

Der Kreuzgang, spätbarocke Romanik, verdrehte Säulen, expressive Tierdarstellungen. Das hätte man früher als germanische Fabelwesen interpretiert, heut weiß ich, dass der geflügelte Stier kein Greif ist, sondern das Evangelistensymbol für Lukas, der weil er heilig ist, Engelsflügel bekam. Vermutlich stammt die alte Interpretation noch von vor tausend Jahren, als man versuchte, das Germanentum überall hineinzugeheimnissen.

Nichts passt besser als Buch und Café (Moissac)
Nichts passt besser als Buch und Café (Moissac)

Honi soit …. Vielleicht war das auch nur der Versuch, völkischer Kunsthistoriker Kirchliches vor dem Atheismus der Partei zu retten. Aber das alles habe ich denen geglaubt. Jessas.

In der Rue Fermat einem Auto die Vorfahrt genommen, und beinahe meinen letzten Satz gemacht. Es ist aber auch blöd, wenn ich mich vom Handy in die Zentren leiten lassen, denn das führt mich die kürzesten Wege meist in Gegenrichtung von irgendwelchen Einbahnstraßen.

Da hätt ich beinahe meinen letzten Satz gemacht.
Da hätt ich beinahe meinen letzten Satz gemacht.

Es geht in das Tal der Garonne auf einem asphaltierten Treidelpfad immer entlang an Platanen und dem Wasser. Nicht ganz so schön wie im Tal der Doubs, aber sehr kräftesparend.
Die schöne Garonne (Friedrich Hölderlin)
Die schöne Garonne (Friedrich Hölderlin)

Die Franzosen sprechen hier sämtliche Vokale und Endungen aus wie geschrieben. Das maintenant klingt so wie es ein Deutscher aussprechen würde, dafür aber mit doppelter Geschwindigkeit wie im Norden, so dass man trotzdem schwer versteht.

In Auvillar gibt es Platz in einem kommunalen Gite, sehr schön, sehr sauber. Ich finde im Kühlschrank eine Tomatenmarkbüchse und koche mir Makkaroni, lege mich um sechs aufs Bett und schlafe in den Kleidern ein, immer wenn ich aufwache, versuche ich einen Schluck zu trinken. Druck auf der Brust, im Kopf und im Arsch. Mir wird klar, dass ich so nicht weiter kann.

9.5

Auvillar war einst für seine Kalligrafien bekannt.
Auvillar war einst für seine Kalligrafien bekannt.

Auvillar Ruhetag

Viermal weckt mich am Morgen die kreuzdämliche Putzfrau auf. Ob ich bleiben will, ob sie zur Apotheke soll, ich müsste in ein anderes Zimmer, ob das meine Sachen seien etc.

Verdämmere den Vormittag und den frühen Nachmittag, mein Körper führt irgendwelche Reparaturen durch, ich merke es durch kurze stechende Schmerzen in den Beinen. Die ersten Pilger kommen schon um 15 Uhr, und dann ist es aus mit Schlafen. Sie sind aber sehr angenehm, drei schweigsame rücksichtsvolle Männer, die wissen wo es langgeht, das sind mir die liebsten. Sie reservieren ihr Quartier einen Tag vorher, bloß wenn man sich am Morgen festlegt, wo man am Abend sein will, dann kann sich das in eine schöne Quälerei ausarten, weil man dann unwillkürlich versucht, mit aller Gewalt das Quartier zu erreichen.

Auvillar, Markplatz mit steinerner Rotunde und hölzerner Kiefer (oder muss man hier schon Pinie sagen?)
Auvillar, Markplatz mit steinerner Rotunde und hölzerner Kiefer (oder muss man hier schon Pinie sagen?)

Das Wetter ist jetzt beständig schlecht, ein Sturm hat sich erhoben und fegt die Gassen leer. Auvillar ein steinernes Dorf, Ziegel, weiße Mauersteine. Der Marktplatz ist mit einer Rotunde zugebaut, die auf Säulen steht, die Markthalle. Um den Marktplatz gibt es Gallerien. Die Künstler in Auvillar haben einiges drauf, vor allem die Keramiker. Einer der Künstler hat die Simsen in den Fassaden mit Terrakotta Figuren vollgestellt, die unversehens auf einen herabblicken. Setze mich eine Kneipe vor kratzigen Rotwein und versuche, den Wind in Worte zu fassen für die beste Kindergeschichte der Welt.

Der Rotwein tut richtig gut und räumt den Magen auf. Sollte weniger Wasser trinken.

Welches Hölderlin-Gedicht haben wir in der Bar von Auvillar dargestellt?
Welches Hölderlin-Gedicht haben wir in der Bar von Auvillar dargestellt?