Molinaseca – Villafranca del Bierzo
32 Kilometer sind angesagt, und es geht tiefeben eine Landstraße durch halbverfallene Dörfer bis nach Ponferrada, und von dort aus weiter über eine lange Landstraße und halbverfallene Dörfer. Bin ausgelaugt von der Bergetappe, der Himmel ist bedeckt. Wenig Bemerkenswertes: eine wunderschöne Kirche in Cacabelos ist aus dem 19. Jahrhundert mit romanischem Kern, darin sind die Statuen in prächtige Gewändern gekleidet und wirken ein wenig wie Schaufensterpuppen. Die Maria aber nicht: Sie einfach nur groß und schön und schaut einen unverwandt an. An der Tür prangt ein Schild mit „Radio Maria“. Madonna, zieh dich warm an!
Villafranca del Bierzo gilt als das kleine Santiago, weil die Pilger des Mittelalters hier schon ihren Sündenablass bekamen, sollten sie zu krank sein, um das Bierzo dieses letzte Gebirge vor dem echten Santiago zu übersteigen. Eine schnucklige Siedlung zwischen Weinbergen, das erste was ich sehe, ist ein Maultier, das vor der öffentlichen Herberge grast und versucht, den Pilgern das Bier wegzusaufen. Meine Herberge liegt außerhalb und die letzten 500 Meter der 32 Kilometer Etappe ziehen sich besonders, es ist schon erstaunlich: Der Körper, kann sich mit dieser Dauerbelastung nicht anfreunden. Immer nach diesen langen Etappen bin ich völlig am Ende, in den Socken klebt die Hälfte meiner Hornhaut, unter den alten Blasen bilden sich neue.
Hier gibt es ganz ausgezeichnete Fischsuppe, weil gerade EM ist, wähle ich das einzige Restaurant der Stadt, das weniger als fünf Fernseher gleichzeitig laufen hat und speise dort. Entdecke später in der Herberge, dass Nachtischlampen sehr dafür geeignet sind, Unterhosen zu trocknen. Der Lampenschirm ist ein ausgezeichneter Wäscheständer, die Lampe spendet die nötige Wärme.
15.6.
Villafranca de Bierzo – Autobahnraststätte
Es regnet, diesmal richtig. Meinem kleinen blauen Regenschirm hat es noch eine Gräte gebrochen, und als Halbkreis hält kaum mehr was ab. Es geht einfach nur einer alten Nationalstraße entlang, links Wald, rechts eine Betonwand, meditatives Regengehen ist angesagt, manche Pilger verfallen geradezu in eine Art Katatonie.
Zeit also, die verschiedenen pilgerischen Verfahren des Regenschutzes unter die Lupe zu nehmen. Die meisten haben Überzüge über Kopf und Rucksack. Die Outdoor Pilger bevorzugen Grün, die Koreaner leuchtendes Pink oder Rot, Deutsche und Holländer eher mögen eher blau, viele Italiener haben durchsichtige und sehr leichte, aber wenig dauerhafte Plastiktüten über sich gezogen, so wie der Mann, der mich gerade überholt: Ganz bei Gott, schiebt sich er sich vorbei, leise Gebete murmelnd.
An der Autobahnraststätte macht ein Windstoß aus den Resten meines Regenschirms einen feuchten Feudel und jetzt langt es. Ich nehme da ein Zimmer, lege die Füße hoch und genieße abends ein galizisches Mahl, das in jener besonderen galizischen Servierkunst aufgetragen wird: Kohlsuppe so auf den Tisch geknallt, dass das Porzellan des Untertellers splittert, ich rieche den in Weißwein gekochten Nierenbraten, als sie mit einer Körpertäuschung nach rechts ausholt, und kann so gerade noch ausweichen, als sich der Hauptgang in die Tischplatte bohrt. Eiskalte in Öl eingeweichte Fritten verteilen sich anmutig um die Trümmer des Geschirrs. Bewundernd sehe ich sie an, und sie schenkt mir einen Gesichtsausdruck zwischen Clint Eastwood und Charles Bronson, als hätte sie gerade die Casting Show „Deutschland sucht den Depri-Star“ gewonnen. Und ich weiß, was jetzt kommt: Der Nachtisch. Sie hämmert die Früchte derart auf den Tisch, dass tatsächlich das Harz in kleinen bernsteinfarbenen Tropfen aus dem Holz der Tischplatte spritzt. In der Melone steckt ein Messer wie die Aufforderung zum Harakiri.
Damit kein falscher Zungenschlag entsteht. Ich achte und verehre das galizische Volk in seiner warmen Großherzigkeit. Denn es gibt sie nun mal, diese bemitleidenswerten Erdenkinder, denen nie die Wohltat von sozialen Kontakten, ein freundliches Wort, oder die Liebe eines Menschen zu Teil wurde, und die nun leben müssen, ohne ein Wort, geschweige denn ein freundliches von sich geben zu können. Ich will es auch nicht Autismus nennen, weil man ja oft mit autistischen Menschen noch auf irgendeine vertrackte Art kommunizieren kann, nein, es sind tatsächlich, nennen wir sie kommunikationsamputerte Menschen, aber eben Menschen, denen die Galizier ein lebenslanges Martyrium in den Verwahranstalten der Psychatrien ersparen, um sie stattdessen in hübsche Uniformen zu stecken und samt und sonders zu Kellern machen.
Ich verlange die Rechnung: Das letzte was ich sehe, ist ein heller Blitz, der sich an der Kante eines scharfgeschliffenen Metalltellers spiegelt, der sich mit 200 Stundenkilometer auf meinen Kopf zubewegt
16.6
Autobahnraststätte – entlegenes Dorf.
Es regnet die ganze Nacht und auch noch am folgenden Tag. Schwere Träume plagen mich, Erinnerungen kochen hoch, nehme Abschiede vorweg, treffe Lebensentscheidungen. Jetzt erst geht das, nach so vielen Wochen und mehr als 2000 Kilometern. Mann war ich dringehangen im Rädchen.
Langer Weg durch Regenwälder, Esskastanien, kleine steinerne Dörfer und auch schon diese keltischen Rundbauten sehe ich, die mit Schieferplatten gedeckt sind. Baumgroße Holunder neigen ihre Dolden mir zu wie weiße Duschköpfe, aus denen Blütenduft abwärts rinnt. Enge gewundene Bergtäler mit Eichen. Wenn der Weg die Straße verlässt, wird er höhlenartig durch Zweige und Stämme, Flechten kleben an der Rinde und kämmen die Feuchtigkeit. Eine Koreanerin hat sich mitten auf die Straße gelegt und ist platt. Ich versuche ihr zu erklären, dass sie bald noch viel platter sein könnte, dann nämlich, wenn sie von hinten ein Laster überrollt,
Aber die Kommunikation ist schwierig. Sie trägt einen pinkenen Plastikmantel, Handschuhe in Petrol und damit im gleichen Farbton wie ihre Schuhe. Ich erkläre ihr, dass sie das ganze Plastikzeug ausziehen soll, wenn es den Berg hochgeht, damit sie transpirieren kann. „Aber dann wird es mir doch kalt!“, protestiert sie. Nichts zu machen. Die Ciclistas halten mal die Schnauze, weil es wirklich steil hochgeht und das ist schön.
Wieder geht es in den Wald, Wasser schießt den Weg hinab, Steine glitschen, Schlamm schmatzt. Neben mir geht ein Spanier in langsamem Bergschritt, er entdeckt eine ältere Frau, die in einer Kehre vor sich hin steht und vor Verzweiflung Schokolade lutscht. Er zeigt auf die Geröllstrecke: „Gleich kommt ein Bus“, beruhigt er sie, und zu mir sagt er, „alle fünf Minuten kommt hier ein Bus.“ „Ja“, antworte ich, „immer wenn die Straßenbahn kaputt ist, kommt hier alle fünf Minuten ein Bus.“ Mit ruhigen Schritten steigen wir weiter bergan.
Ich wollte schnell nach O Cebreiro kommen, scheitere aber in La Faba an einem Franziskaner Weißbier. Hier hat sich ein Deutscher vor 15 Jahren niedergelassen. Aus den Lautschprechern hämmert so ne, hab keinen Namen dafür, weil ich die Platten immer wegschmeiße, so mit rock unterlegter Schamanen-Gesang für Lama plus Digeridoo plus Drumcomputer. Der Text heißt Om und soll wohl direkt in die Omme gehen. Am einzigen Tisch außerhalb hockt steinern der Gott Ganescha, der elefantenköpfige indische Gott des Anfangs, und weil ich gerade ein Bier angefangen habe, setze ich ihm die Flasche vor den Rüssel als Opfergabe. Ich trinke mein Bier in langsamen Schlucken und passe ein bisschen auf, dass Ganescha seinen Rüssel nicht auch noch in meinen Humpen steckt. Weil inzwischen wieder eine Regenfront das Land feuchtet und etliche Pilger durchnässt, mache ich mich an meinem Regenschirm zu schaffen,
Nach einer Weile fühle ich mich beobachtet. Ganescha? Nein, der sitzt ruhig vor meiner Franziskaner-Flasche und betrachtet den dicken Mönch auf dem Etikett. Es sind drei Hospitaleros, die auf den Stufen der Veranda hocken und mir bei dem Versuch zusehen, die offenen Brüche meines Regenschirms zu schienen und den Stoff wieder anzunähen. Aufmerksamen Auges rauchen sie schweigend.
Aber wie soll ich mich begreiflich machen? Ich sei ein romantischer Poet und zu romantischen Poeten gehörten nun mal Regenschirme in denkbar schlechter Verfassung?
Je nun, die Nadelspitze bewegt sich malerisch durch den Stoff, und bald sieht jeder in der Bar ein, es hat überhaupt keinen Wert, einen Regenschirm zu flicken. Jeder außer mir vielleicht. Aber es sagt keiner was. Nicht mal Ganescha, der mein Bier langsam leer hat, und ein neues will. Der Besitzer der Bar ist außerdem noch im Geschäft mit den Reitern, die Rucksäcke und auch Pilger über die Paßhöhe bewegen. Ein Cowboy kommt vorbei und treibt die Tiere ins Tal.
Das ist jetzt gewissermaßen die letzte Bergetappe, es geht nochmal auf 1300 Metern hoch nach O Cebreiro. Das ist das Dorf, wo ich einst in dem Leibhaftigen begegnet bin. Ich hatte vor 25 Jahren in einem Kuhstall übernachtet und morgens aus unruhigen Träumen erwachend in einen hornigen Kuhschädel geblickt, weil die Viecher vor Kälte in den Stall zurückgetrabt waren. O Cebreiro ist nun ein echter Touristenort geworden. Jedes Haus ist ein Hotel, und jedes Hotel ist belegt. Ich bin länger in der Kirche, die mein Reiseführer etwas diffus als vorromanisch bezeichnet, denn darin wird der heilige Gral von Galizien aufbewahrt, was immer das sein soll. Ferne sieht man hinter Glas einen kleinen goldenen Kelch. Davor wabern rote Opfekerzen, die einer vorgotische Madonna huldigen. Nebel hüllt den Ort ein, die Temperaturen sinken, nachts werden es 2 Grad. Dazu ein unangenehmer Regen. Ich laufe von Haus zu Haus, doch es ist unmöglich, ein Bett zu finden, also trinke ich Bier. Der Barmann findet einen Bekannten, der in einem entlegenen Bergtal eine feudale aber recht leere Unterkunft betreibt. Er holt mich mit dem Jeep ab.
17.6
Dorf in entlegenem Bergtal – Barbadelo
Der Mann bringt mich auf den Camino zurück, und das erste, was ich in Triacastela, der nächsten Stadt mache, ist mir einen neuen Regenschirm zu kaufen. Dem unbarmherzigen Regen kann man allerdings keinen mangelnden Sinn für Romantik vorwerfen. Nebel quillt durch eichenbestandene Hänge, durch Kastanienhaine mit moosigen, fassdicken Stämmen und bizarr gezackten Ästen, zieht sich durch Farne und Holunder, wälzt Wasser über Wege und Hänge.
Ich bleibe an einer Viehweide stehen. Die Kühe haben mächtige Hörner, deren Spitzen schwarz auslaufen und die zur Seite gerichtet sind, wie die Bögen einer Lyra. Ein Mann steht neben dem Gatter, blauer Pulli, Wanderstock, Stiefel, wahrscheinlich der Bauer.
„Schön“, sage ich.
„Schön, ja“, antwortet er.
Mein Rucksack ist vom Regen vollgesogen und bleischwer, die Beine schmerzen, die Achillessehne legt sich quer und streikt. So schaffe ich es nach Sarria, einem munteren Prozenzstädchen, wo es Hamburger gibt, was mir den Neid sämtlicher vorbeipilgernder Amerikaner einbringt, die versprechen, zurück zu kommen. Gehe einen mühsamen Weg nach Barbadelo und beziehe mein Stockbett. Mehr war nicht zu kriegen. Jetzt sind es noch vier Tage bis nach Santiago. Ich will endlich ankommen. Wenn ich könnte, würde ich die Strecke in zwei Tagen mächen.
18.6
Barbadelo – Ventas de Naron
Und er ist es tatsächlich: Der Deutsche Herbergsvater aus La Faba, wartet an diesem schönen Junimorgen mit Stock und Stiefeln an einer Bar zwischen Morgade und Ferreiros. Aber nicht auf mich. Ich fürchte, Radio Camino ist um eine Telenovela reicher. Denn er hat eine blonde fußkranke Schweizerin ins Herz geschlossen, die an seinem Haus in La Faba vorbeigehumpelt war. Ich versuche ihm zu erklären, dass sie zwar wirklich nett ist aber höchstens 23 und er mindestens 53. Aber natürlich: in seinem grünen Schlapphut steckt eine getrocknete Rose und das Haarband einer Frau, ganz romantischer Poet, der Fall ist hoffungslos.
Denke an alte Zeiten: Chica, deinen Dämon bist du losgeworden, hoffentlich findest Du jetzt auch deinen Engel.
Der Deutsche berichtet von einer 2000 Jahre alte Eiche an einem romanischen Kreuz kurz vor Ligonde und glaubt, dass Jesus so eine Art Yogi war, „er hatte so eine Körperbeherrschung, dass die Römer glaubten, er sei tot, als sie ihn vom Kreuz nahmen. Er ging aus dem Grab und lebte weiter, allerdings wollte er mit den Menschen, die ihn verraten hatten, nichts mehr zu tun haben“, berichtet er.
Wenig später treffe ich jene Schweizerin, sie sitzt in kurzen Hosen im Biergarten und ich erkenne ihr Gesicht nicht gleich, weil ich ihr länger als schicklich auf den Oberschenkel starre. Von dem aus windet sich eine monströse Tätowierung bis zum Fußknöchel. Bevor ich genau erkenne, was die gelbe Krake da macht, sehe ich weg. Muss unter allen Umständen verhindern, dass sich meine Töchter so was antun. Aber wie? Vielleicht sollte ich mir selber eine Krake auf den Pelz brennen lassen, dann finden sie es peinlich und lassen es.
Der Camino ändert sich wieder. Ein überfüllter Disney-Camino. Lachende, lärmende Schulklassen wandern, ältere Männer, die darüber reden wieviel Käys (Caminoslang für Kilometer) sie schon gemacht haben, wieviele Käys sie noch machen werden und wieviele Käys sie gerade machen, wieviel Geld irgendjemand irgendwohinein gesteckt hat, wieviel Geld jenes und dieses gekostet hat, und wieviel Geld sie noch brauchen werden. Sie trotten und trampeln dahin und sehen weder Blumen noch Bäume, während die Pilger, die schon lange unterwegs sind, wie Blätter in einem Fluss kreiseln und versuchen, wieder eine Richtung zu bekommen.
Und das Gequatsche. Ihre ständig blubbernden Münder sind das unvermeidliche Motorengeräusch ihrer Fortbewegung. Schallwellen umbranden mich, dazwischen rollen nagelneue T-Shirts, hübsche bunte Turnschuhe, adrett gepackte Rucksäcke, an denen, um das Bild des zünftigen Camino-Helden abzurunden, eine Blechtasse baumeln muss, die wohl eine ähnliche Funktion erfüllt wie eine Brosche.
Doch es gibt auch einen besseren Teil dieses Tages: Die Pilgeströme bleiben in Ponferrada und in Portomarin stecken. Es wäre vernünftig, ebenfalls in diesen Städten zu bleiben, aber die drei Stunden, die ich völlig irrational weiter gehe, zeigen wieder die Magie des Weges.
An diesem Tag schließen sich Kreise mit der Konsequenz eines ablaufenden Uhrwerks. An einem Steinhaus bietet eine Australierin für eine kleine Spende Essen und Getränke an, von einem Lautsprecher tönt Beethovens Mondscheinsonate. An ihrem Haus finde ich, was ich lange suchte. Ein rotes Santiago-Kreuz, mit dem vor 25 Jahren der Weg in Galizien markiert war, bevor die gelben Pfeile überall in Mode kamen. Dieses Kreuz mit langer Spitze schien mir damals viel harmonischer, als die schwertähnlichen Kreuze, die normalerweise den Apostel zieren.
Andächtig fotografiere ich dieses alte Kreuz meines ersten Caminos.
Abends in Portomarin. Es riecht nach Meer, ein großer Arm eines Stausees breitet sich vor mir aus, muss mal auf der Karte gucken, ob man tatsächlich von hier bis zum Atlantik kommt. Bussarde und Weihen kreisen über dem Wasser, ich bin sehr müde und es fält mir schwer, weiter zu gehen, aber jetzt ist der Weg leer und einsam. Ein Supermarktverkäufer zeigt mir, wie eine alte Brücke und vermutlich auch das alte Dorf in den Fluten des Stausees verschwunden ist.
Ein sanfter Anstieg bringt mich auf eine einsame Landstraße. Zwei Störche ruckeln durch ein Feld, schließlich, von Radlern aufgeschreckt, erheben sie sich und segeln talabwärts. Eichelhäher flattern vorbei, Licht hüpft auf den breiten Wedeln von Adlerfarn, Violett blutet aus den Kelchen der Fingerhüte.
Ja und tatsächlich, bei der letzten Rast im Örtchen Gonzar legt sich mir eine Pranke auf die Schulter: Ein deutsches Pärchen, die ich zuerst in Roncevalles traf. Meine Caminofamilie ist zurück. Sie bringen auch Nachrichten von den anderen. Die beiden deutschen Mädchen. Eine ist ebenfalls hier, die andere ziemlich zurück. Und Mensch, der Berliner? Der hat mächtig aufgeholt und höchstens zwei Tagereisen hinter mir. Weiter geht es, obwohl ich nicht mehr kann.
Nach Gonzar liegen die Reste eines keltischen Oppidums am Weg. Castromaior. Drei gut erhaltene Ringwälle wie magische Symbole in der Landschaft, darin Mauerreste.
Vor den Resten rastet ein Mann, den der Camino bald fressen wird. Ein wackeliges Zelt, das Überdach hat er als Plane auf dem Boden. Die Blechtasse voll Wein, ein Blechteller leer, auf einer Tüte Hundekuchen für die beiden Tiere, er selbst raucht Selbstgedrehtes oder Joints. Bart, vom Wind zerwühle braune Haare.
„Ich vermisse nichts mehr“, sagt er, „als ein Schnitzel mit Kartoffelsalat.“ Die Grillen schweigen, der Wind weht, die Kelten haben Punkte mit Aussicht bevorzugt, Kilometerweit kann man ins Land sehen, das vom Abendlicht in helle und dunkle Streifen zerteilt wird. Er ist Tscheche, „habe 18 Jahre lang auf meinem Bauernhof gearbeitet, 18 Jahre und nichts verdient, jetzt hat die Bank den Hof und von 18 Jahren Arbeit ist nichts“, sagt er, „ich bin einfach gegangen, einfach weg, im Winter, es war mir egal, ich bin Mitte Dezember von Prag gestartet und über Ulm und Genf nach Le Puy. Ich gehe langsam. Der zweite Hund ist mir zugelaufen, ich muss ja für beide Hunde sorgen, ich bettle, ich gehe in die Messen und frage dann den Pfarrer, ob ich etwas zu essen bekomme. Nur weiß ich nicht, was ich im nächsten Winter machen soll, und wo ich hin soll, ich kann auch mit Pferden arbeiten.“
„Wenn Du Bauer bist“, sage ich, „kannst du im Herbst bei der Ernte helfen, da suchen sie immer Leute. Danach gehst du auf einen Pferdehof und arbeitest für Essen und Unterkunft.“
Aber ich weiß, er wird es nicht mehr schaffen. Er ist schon zu weit drin im Camino.
Wir wünschen uns Gottes Segen, mehr können wir nicht füreinander tun.
Ich gehe weiter bis Ventas de Naron. Unter der Autobahnbrücke brausen Motorräder, Grüße aus einer anderen Welt. Auf der Terrasse sitzt M., der extra aus Deutschland gekommen ist, um mich zu besuchen. Wir trinken Whisky und Wein, bis sich die Wirtin beschwert, und es zu kalt wird zum draußen sitzen.
19.06
Ventas de Naron – Melide
Immer mehr Eukalyptusbäume. Frisch gewaschenes Grün, ein prächtiger herrlicher Morgen diesen Sonntag. Das romanische Steinkreuz vor Ligonde zeigt einen Totenkopf und einen Hefekranz als Symbol des Lebens, dazu Handwerkszeug. Außergewöhnlich in der Romanik. Die Pilger heute haben die Unsitte, überall Steine draufzulegen. Auf jedem Kilometerstein liegen Kiesel, jedes Feldkreuz wird gesteinigt. Ich nehme sie weg, weil sie die schönen Figuren verschandeln. Überhaupt nehmen die Graffiti überhand. Alles ist mit schwarzem Filzsstift vollgemalt, die Wegweiser sind mit Werbung vollgeklebt, die Tische und sogar die Bäume sind vollgesudelt, meist sind es Italiener, wie ich den Inschriften entnehme, nun gut, wie man aus Pompej weiß, haben die eine 2000 Jahre alte Tradition des Graffitos.
„Kann man da was sehen?“ Ich stehe vor einer hübschen romanischen Kapelle und betrachte ein Fenster, das mit zwei Säulen und steinernen Perlen verziert ist. Der Amerikaner ist braun gebrannt, schlohweißer Bart. Er hat sich eine mittelalterliche Pilgermütze gezimmert mit Muschel auf der hochgesteckten Hutkrempe. Die Kirche müsste ihm doch aufgefallen sein.
Weiß auch nicht, was drauf antworten und schweige. Der Mann hält mich wohl für unhöflich oder dämlich und geht weiter. Ich bleibe stehen, um ihn wiederum in Ruhe für dämlich oder unhöflich zu halten. Sprach- und Mentalitäsbarrieren sind nicht zu unterschätzen.
Wann und wie über die Wälder schreiben. Was heißt Wälder, es sind Eichenhaine, meist hinter Steinmauern, die sie überwachsen haben, als hätte man sie angepflanzt. Die Äste der Eichen sind gekappt wohl schon vor Jahrunderten und die Äste, die von den Stümpfen wachsen, scheinen ebenso alt. Die Stämme sehen, aus als würden sie Arme heben mit langen dünnen Fingern, die den Nebel streicheln.
Ich kann keine Bar mehr sehen, und schon gar keine Tortillas und Bocadillos mehr, und auch keine PIlger. Ich versuche, am Wegesrand zu rasten, bloß wird jeder Ort, an dem man sich einigermaßen niederlassen könnte, als Toilette missbraucht. Ich erinnere mich an ein romanisches Brücklein bei Atapuerco, auf dem deutlich zu lesen stand, dass man nicht auf romanische Bauwerke scheißen soll. Überfall flakken die weißen Tempotücher herum. Ich verstehe ja, das Frauen so was beim Brunzen brauchen, also muss ich wohl flugs das naturgrüne sich innerhalb von einer Stunde zersetzende Outdoor-Brunz-Taschentuch erfinden, ökologisch getestet und klimaneutral und damit ein Vermögen verdienen.
Leute, die nicht auf den Camino gehören sind jetzt zuhauf da. Die sich beschweren, weil ich die Tür vom Restaurant offen lasse, weil es den alten Herrschaften zieht, die sich beschweren, wenn ich mich mit Voltaren einschmiere, weil sie gerade beim Essen sind. Zwei-Klassen-Pilger: Viele nutzen den Gepäcktransport und gehen mit Tagesrucksack, die Taxifahrer, die die Koffer kutschieren, fahren wie geisteskrank durch die Kurven und drängen die anderen Pilger an den Rand.
Aber das Wetter ist toll, und es sind letztlich Kleinigkeiten. Die Großigkeiten: Der blaue Himmel über mir, der Weg unter mir.
Abends in Melide. Jetzt ist auch R. da, der ein paar Tage am Meer und in Santiago verbringen will, und mich ebenfalls besucht. Wir sitzen draußen an einem Rondell mitten in der Stadt. Das Hotel, das ich gebucht habe, ist geschlossen und ich frage mich, mit wem ich da telefoniert habe. In einer Fußballkneipe gibt es ein Pilgermenü, während die Spanier sich mit Kartenspielen vergnügen. Noch ein Mitglied meiner Caminofamilie ist aufgetaucht, die deutsche Frau, die mir in Roncevalles half, die alte Französin bergab zu bugsieren, die Kreise schließen sich, der Weg wird ein Ganzes. Begreife auch, warum sich die Leute immer wieder auf den Jakobsweg machen: Weil sie es nicht schaffen, ihr Leben zu ändern, wenn sie wieder zurück sind. Die Angst ist es, die Angst vor Veränderung.
20.06
Melide – Pedrouzo
Bin ich jetzt wirklich einen Tag vor Santiago? Habe ich wirklich einen halben Kontinent durchwandert? MIch durch Tage gekämpft, die nicht enden wollten, die müden Füße immer weiter gehoben, bis ich irgendwo ankam? Zuletzt wusste ich nicht mehr, von welchem Ort ich aufgebrochen war, wenn ich mich jemand fragte, zuviele Orte, zuviele Namen. Aber der Weg hat an diesem vorletzten Tag mich noch einmal mit seinen Zaubern überhäuft, zugewachsene Feldmauern, die Prozessionen von Steinpflanzen als Untergrund dienen. Über die Mauern sind die Eichen gewachsen, die die Steine mit ihrem Stamm festzuklammern scheinen, dann wieder Eukalyptuswälder mit den hartblätterigen Stämmen und dem unverkennbaren Duft.
Die hinkende Schweizerin ist zur Zeit der Star des Caminoradios. Den Weg rauf und runter wird ihre Geschichte erzählt. Wie sich sich tapfer den Weg entlang kämpft. Wir wandern ein Stück, sie leidet in ihrem Bürojob, ich bekomme das Gefühl, dass sie viele Jahre falsch gelebt hat. Andererseits, wer hat das nicht. Vielleicht braucht sie einfach nur jemanden, der mit ihr redet. Ich erkläre ihr, wie Eukalyptusbäume aussehen und zeige ihr Blumen. Wir gehen durch die Dörfer, die halb verfallen sind, dann aber wieder neu belebt von der Caminokultur. Immer wieder wird für Shihatsu oder so ähnlich geworben, energetische Massage für Pilger lese ich an den Schildern, die an den neu aufgebauten Steinhütten prangen.
Denke an den Schamanen zurück, der mir sagte, er könne niemanden heilen, das könne nur Gott. Deswegen würde er auch kein Geld nehmen. Aber die Wunderheiler, die für Geld arbeiteten, bilden sich vermutlich Wunderkräfte ein, doch da ist nichts, natürlich nicht.
Nebenbei: Es ist auffällig, dass die meisten dieser Wundertiere, die angeblich mit irgendwelchen Kräften der Natur arbeiten, von der Natur nicht die leiseste Ahnung haben. Sie können nicht einmal einen flockenstieligen Hexenröhrling von einem netzstieligen Hexenröhrling unterscheiden, dabei weiß doch jeder, dass der flockenstieligen Hexenröhrling einen flockenstieligen Stiel hat und der netzstielige Hexenröhrling einen netzstieligen Stiel. Einer von den beiden ist übrigens giftig. Ich kann mir nur nie merken, welcher.
„Ah, die Reservierung“, begrüßt mich der Herbergsvater. Spätabends in Pedrouzo, diesmal 34 Kilometer gegangen, damit die Etappe morgen schön kurz ist.
21.06
Pedrouzo-Santiago de Compostela
Jetzt sind es nur noch zwanzig Kilometer. Der Weg geht immer noch durch Eichenhaine. Die alten Bäume haben sich zu kleinen Gruppen zusammengedrängt, umständen von Eukalyptusbäumen, als würde die Alte gegen die Neue Welt kämpfen, aber die Alte Welt verteidigt sich gut und das ganze in lichtdurchflutetem Glanz. Weil ich so spät dran bin, schenkt mir der Wald noch einige Viertelstunden Einsamkeit, bevor die Pilger anrücken.
Ein kölscher Kerl taucht auf, den ich schon seit ein paar Tagen immer wieder gesehen habe. Er notiert eine der Weisheiten des Caminos. Wer auf Gott vertraut, der hat keine Angst, und wer keine Angst hat, über den hat niemand Macht. Denn alle Macht beruht auf Angst.
Vom Monte Gozo hat man eine Aussicht auf vier Bäume, die vor der Aussicht auf Santiago stehen. Ein Koreaner arbeitet sich mit einem orangenen Klapprad den Weg entlang, Mann, ist das ein ulkiger Anblick. So fuhr ich ja auch: Die Kreise schließen sich, Klack, Klack, Klack.
So viele Menschen haben mich auf meiner Wanderung begleitet, Lebende und Tote, und jetzt am letzten Tag auf den letzten Kilometern geht mein alter längst gestorbener Wanderführer mit mir ein Stück und sagt ein Lebewohl.
Dann bin ich allein. An der Stadtgrenze von Santiago steht ein steinerner Pilger. Ein Mädchen weint, als die ihn sieht. Ihr Freund tröstet sie. Jetzt ist es nur noch Freude, nur noch Vergnügen, selbst durch die Banlieus der Stadt. An einer kleinen Anhöhe halte ich, der Turm der Kathedrale wird sichtbar. Ich diktiere Gedichtverse ins Handy, die mir beim Gehen einfallen.
Der Weg
Ich folgte der Straße der Muscheln und fand einen Stern
Dich
Im ruhigen Wasser meiner Ankunft stand eine Kirche
Ihr Bild zitterte in der schimmernden Dünung der Nacht
Und ihre Türme streiften die Tiefe
Dort, wo heilig wurde ein Mensch für Menschen,
Und als ich aufstand vom Boden der Kathedrale
Wischte ich Sand von den Knien
So komm –
Jede Reise endet und beginnt am Meer
Wo die Schiffe beladen mit Träumen
Steuerlos
über den Rand der Erde ins Wirkliche gehn.
Nun ja, vielleicht ein bisschen pathetisch und der Mittelteil ist noch nicht gut. Wird aber.
Die Altstadt öffnet sich mit der Pforte de Santiago. Ein Touristenbimmelbähnchen rattert vorbei, die Leute fotografieren mich, ich posiere und winke. Komme mir vor, wie ein Filmstar:
„Uuuliii“, schreit es aus der Bar, ach ja, der Franzose, hatten wir uns nicht in Atapuerco gesehen? „Uuuuliiii“, der Manager läuft mir entgegen, „Mensch, seit wann bist Du da?“
Nur noch ein paar hundert Meter, dann bin ich da, am Platz vor der Kathedrale.
Blauer Himmel, der Platz ist voller feiernder lachender Menschen. Wie wird es sein, anzukommen? Ich bin einfach nur glücklich. Glücklich, die beiden gotischen Stadthäuser links und rechts neben der Kathedrale zu sehen, die barocke Fassade, die auf das romanische Kirchenschiff aufgetropft ist, jetzt eingerüstet. Glücklich, über die Steinplatten zu gehen, auf denen die anderen Ankömmlinge sich fotografieren lassen, die Arme in die Höhe reißen, oder einfach nur erschöpft niedersinken. Lasse mich fotografieren, mache mein Facebook Posting, und dann gehe ich in die Kathedrale und lege die restlichen Dinge, die noch da sind, und die ich auf dem Weg nicht zurückgelassen habe vor das Grab des Apostels. Seine Gebeine liegen in einem silbernen Schrein, wohlverschlossen hinter Glas, davor ein schweres Tor und eine purpurn gepolsterte Kniebank. Schulklassen preschen hindurch, hinter mir.
Dann ist es Zeit, sich zu bedanken. So wie alle anderen Pilger auch, steige ich den goldgefüllten Altar hoch, mehrere steinerne abgetretene Stufen zu der großen, goldenen Statue von Sankt Jakob, die mit Perlen und Muscheln verziert ist und umarme ihn.
Ende
Nachtrag
Verluste:
Mehrere Zehennägel
Zwei Wanderstöcke,
Etwa sieben Unterhosen,
Zwei T-Shirts, wobei ich eines zu einem Handtuch umgearbeitet habe
4 Kilo Lebendgewicht.
Hält sich in Grenzen
Gewinne:
Drei Monate, die mir niemand mehr nehmen kann und wird.
Gelöste Rätsel:
Der Sinn des Universums und von dem ganzen Zeug: Da sein.
Der Sinn des Lebens: Weiterpilgern und an den Rosen riechen.
Gibt es Gott?: Ja, auch wenn man nicht dran glaubt. (Ähnlich wie beim Hufeisen)
Machst Du den Weg, oder macht der Weg Dich?: Der Weg ist ein Spiegel, der sich zieht.
Ungelöste Rätsel:
Warum, zum einbeinigen Henker, ist das im Rucksack immer ganz unten, was man gerade braucht?
Am Abend meiner Ankunft sind R. da und M. Wir gönnen uns eine Havanna und ein paar Canjas Bier auf einem kleinen blumenbestandenen Platz in der Altstadt. Später im Pilgerbüro lacht und scherzt der Voluntario mit mir, vermutlich bin ich mit den 2300 Kilometern Tagessieger. Ich hole mir meine Urkunde ab.
Jede Reise endet und beginnt am Meer, habe ich geschrieben. R. fährt mich nach Finisterre, das Kap am westlichen Zipfel Spaniens, das mir gleich dreimal poetisch vorkommt: Weil es das Ende der Erde ist, weil in Finisterre das Wort Finsternis steckt, und weil die ersten Pilger den Namen als finstern Stern interpretiert haben. Am Ende der Welt leuchtet ein dunkler Stern in der Finsternis, für uns.
Ich schreibe für den „Hexenmeister von Villafranca“:
Und das Meer silbern jetzt, kringelte sich in weißen Schlieren um das Kap. Die Sonne fiel gegen die Kiesel und Blumen sprossen daraus empor. Es war leise. Der Leuchtturm schwieg, und die Erde stand still. „Ich gehe mit dir an das Ende der Welt, das habe ich dir versprochen“, sagte ich. Julia nahm meine Hand. „Und nun sind wir angekommen“.
Nur – Die Welt hatte kein Ende
Das Meer wölbte sich auf, ein Fels schwamm darin, zog weiße Schlieren über den Ozean, ein Fischerboot näherte sich, Die Wolken schmolzen im Blau und wurden weniger, der Himmel drängte sich hindurch und das Meer wurde türkis. Ein Schuh stand da, angeschwemmt. Die Menschen schienen zu warten, der Schaum drückte sich zusammen und zog in einer langen Kette nach außen in die Weite. Seevögel, weiße Punkte wie Sterne von Sternbilden, schwammen im Blau, veränderten sich, wären sie Sterne würden jetzt Jahrmilliarden vergangen sein.
Dünung kam auf und zerteilte den Schaum, brach Schollen ab, weißblau wie Eisberge sein könnten. Das Fischerboot kämpfte sich voran.
Julia ging hinunter und starrte auf das Wasser. „Da ist mein Land“, sagte sie, „mein Land, da unten, da hinten.“ Das Licht schwoll auf, und ließ die Sonnenseite grau und hell werden, der Wind brach das Wasser in raue helle Stücke, schneeweiße Flächen zeigten sich wie Risse im Wasser, dahinter glitzerte es. Der Horizont verschwand. Wolkenwürmer schwebten über dem Wasser, wie weiße Drachen, hoben sie sich über das Wasser, drängen an das Kap und fluteten durch die Wälder. Möwen, immer wieder Möwen. Steine. Runde große Findlinge waren da, manche zerbrochen und hohl, wie die Schalen der Ewigkeit, als hätten sie die Zeit entlassen, manche schwarz. Ginster wuchs und Kerbel stach empor. Disteln leuchteten, Natternköpfe standen, Löwenzahn ruhte in sich, kleine Sonnen und Sternen zwischen den Steinen. Im Osten wurde das Meer dunkelblau, weiße Wokenbänge verhüllten das Land, ein Schmetterling stach vorbei. Jetzt trieben die Möwen in den Schaum hinein, der an den Felsen brach. Ganz leises Geräusch von Dünung und Brandung, Gräser zitterten wieder.
Sonne drang jetzt durch den Dunst, um den Horizont anzuzeigen, den ganzen Raum des Meeres. Ich fühlte mich, als würde ich hineingezogen in das zackige Blau der Strömung. Möwen segelten schweigend, dahinter waren Muschelbänke.