15.4. Montbeliard
Diskutiere während der Autofahrt mit Murrat über Religion. Kommen überein, dass alle Religionen das Gleiche sagen, und dass man die Religion des Anderen respektieren müsse. Dann bete ich, während wir über die Autobahn fahren. Denn Murrat, der Fahrer, braucht auch bei 140 Stundenkilometern, wenn er über Religion spricht beide Hände zum Gestikulieren. Meine Gastfamilie wohnt in Etupes, wo Murrat in einer anderen Zeit und in einem anderen Leben als kleines Kind in Frankreich gelandet ist mit seinen Eltern, als Sechsjähriger. Er fährt mich zu einem Banlieu-Block, da sei er aufgewachsen, erzählt er voll stolz, deutet auf eine phantasielos zusammen betonierte Bude nebenan, „und das war meine Schule“, sagt er noch stolzer. „Es regnete und ich sah, dass alles grün war, weißt Du in meiner Heimat beten sie für den Regen, und ich dachte, ich sei im Paradies.“ In der ersten Nacht war Schnee gefallen, und er hat seine Mutter wachgerüttelt und gerufen, „Mama schau, da ist alles voller Zucker, wir müssen ihn holen.“
Murrat küsst mich zum Abschied, wie das Freunde tun.
Meine Gastfamilie hat ein kleines Kind, so wie meines. Ich bestaune in der Küche eine Maschine namens Babycook, in dem man entgegen des Namens keine Babys sondern Gemüse im Dampf kocht und gleichzeitig zu Brei mixen kann. Wenns piept, ist es fertig. Wie praktisch, dann muss man nicht immer diese Gläsles-Zeug kaufen. Sie sind beide Polizisten, die Frau, Karine, konnte irgendwann nicht mehr. Die Gewalt und die Besoffenen, die viel zu laxen Gesetze, die Nutzlosigkeit des Kampfes und die Aggression des Berufes hat sich nicht mit den zwei Babies vertragen, die sie jetzt mit großer Freude großzieht. Ich kriege die Spezialität von Montbeliard serviert, gebratene Wurst mit honigartigem Käse. Und jede Menge Calvados aus einer alten Saftflasche vom Opa. Als mein Gastgeber nicht mehr reden kann, täusche ich eine Unpässlichkeit vor und bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen. Einen gravierenden Unterschied gibt es unter uns gescheiterten Idealisten, wie Polizisten und Journalisten nun mal sind. Die Bullen vertragen nichts.
16.4.
Ich trabe auf dem Radweg entlang des Flüsschens Doubs nach Montbeliard. Hier ist Hölderlin gegangen, mit Sicherheit, als er auf dem Weg von Tübingen nach Bordeaux den Verstand völlig verlor. Er sei vom Apoll geschlagen worden, hatte er notiert. Wenn mich Apoll schlägt, dann schlage ich zurück, notiere ich.
Im Tourist Office wird mir erklärt, dass der Radweg 160 Kilometer an der Doubs entlang führt bis Dole. Schön eben und kein Schlamm, so pilgert es sich besser. Ich lasse die Schlammtrasse, da wo sie hingehört, im Wald und beschließe, auf dem Radweg zu bleiben. Statt in Pilgerherbergen zu frieren, will ich Couchsurfing zu betreiben.
In Montbeliard sind die Ducs de Wurtemberg lebendig, die hier einst regierten. In den Museen stößt man auf sie und auf den württembergischen Hofbaumeister Heinrich Schickhardt. Ihm haben die Mömpelgarder einen eigenen Parcous gewidmet, der den Besucher von der einen Schickhardt-Kirche zur anderen führt. Mich müden Mann führt der Weg in eine Bar am Marktplatz, die von fünf alten Biertrinkern eher ent- als bevölkert wird.
Meine Achillessehne klingt langsam ab, aber besser ruhen. Das Problem beim alleine Wandern ist, dass man auf seinen Körper zurückgeworfen ist und Wehwehchen stärker wahrnimmt. Die beiden wunden Stellen an den Hüften, ist das jetzt bloß aufgescheuert vom Laufen oder Gürtelrose? Ich entscheide mich für Hautkrebs und bestelle noch ein paar Bier, schließlich gibt es im Himmel kein Bier und wann hat man schon einmal einen Blick auf eine Schickhardt-Kirche in Frankreich?
Vor der Kneipe hält ein Porsche und sorgt für den ersehnten Gesprächsstoff, auf den die fünf schweigenden Gesellen seit drei im Bier versunkenen Stunden gewartet haben.
„Cinqante mille Euro!“
„C’est coupé“, verstehe ich, „Moteur central?“
„Hybrid“, kontere ich und steige sofort in der Achtung der Barvögel.
„Super Jolie“, wird mit generös beschieden.
Darauf noch ein paar Kolben. Ich wanke ins Hotel.
Mein Rucksack muss leichter werden, und ich trenne die Henkel der Stofftasche ab, in die ich meine Isomatte gepackt habe, lasse anschließend den Saum heraus, damit die Tasche länger wird und die Iso-Matte besser reinpasst. So erschaffe ich mir einen Schonbezug mit nichts als Nadel und Faden.
Es folgt das Lob der Nähnadel: Ein Stück Draht mit einem Loch drin, wiegt nichts, hat keine mechanischen Teile und keine Batterien. Es gibt kein einfacheres Werkzeug, mit dem man so großartige Dinge erschaffen kann wie mit einer Nadel: Kleider, Hauben, Hüte, Hemden, Modekreationen, Fallschirme, Flugzeugbespannungen, kathedralengroße Gobelins?
Nach dem Lob der Nähnadel hat sich eine Couch-Surferin gemeldet, die mich übermorgen aufnimmt. Na ja, für morgen habe ich ein Hotel.
17. 4
Als die wackere Frühstücksfrau sieht, dass ich Deutscher bin, radebrecht sie in einem Englisch, das dermaßen schlecht ist, dass ich Mitleid bekomme, weswegen ich zurück radebreche in einem Französisch, das dermaßen schlecht ist, dass die Frühstücksfrau Mitleid bekommt und weiter auf Englisch radebrecht, was mich wiederum, etc. so geht das eine Weile weiter, bis sie auf die Idee kommt, den Fernseher einzuschalten und Ruhe in den Köpfen ist.
Es hat die ganze Nacht geregnet und regnet noch. Ich folge weiter dem Radweg. Topfeben und kerzengerade am Jachthafen von Montbeliard, dem Doubs und dem Kanal der Doubs entlang. Immensens Hochwasser, das aber jeder hier gelassen nimmt. Oder heißt das „der Doubs“? Ein Fluss sollte weiblich sein, die schöne Garonne —- flugs eine Dissertation verfasst, wann Flussnamen weiblich oder männlich sind. Sächlich sind sie nie.
Es regnet und regnet weiter. Die Regenwürmer auf dem Radweg laden zu Allegorien und Wurm-Haikus ein, denn hin und wieder habe ich einen Wurm mit dem Wanderstock vom tödlichen Asphalt ins rettende Grün der Wiesen befördert.
Man kann nicht alle Würmer retten,
nur beten kann man für besseres Wetter.
Gelassen und ruhig stehen die Pferde, wenn es regnet.
Mit dem Regenschirm tief ins Gesicht gezogen, verpasse ich eine Abzweigung und bin auf einmal in einem Dorf namens Bavans am nördlichen Doubsufer. Nie zurück gehen. Ich folge den Straßen, rätselhaft und doch erklärlich sind die Überschwemmungen auf den Bergen. Rätselhaft weil Berg, erklärlich, weil auf Berg keiner mit Überschwemmung rechnet. Die Bäche sind aus den Kanälen gesprungen haben die Wiesen überschwemmt und rieseln in die Keller.
Auf rechter Straße gelange ich, schon ziemlich am Ende, über eine Brücke, die den strombreit geschwollenen Doubs überspannt. In der Mitte des Bogens bleibe ich stehen und spiele ein Spiel meiner Kindheit, das nur funktioniert, wenn ein Fluss Hochwasser hat. Man kneift die Augen zusammen und blickt nur auf das Wasser und die Vorderkante der Brücke. Mit der Zeit hat man die Illusion, nicht das Wasser würde unter der Brücke durchströmen, sondern die Brücke führe über das Wasser.
WWWWUUUUUUUSCH!!!! Ein Lasterfahrer donnert vorbei und zischt zwei prallgefullte Spurrinnen voll Wasser in meinen Rücken. Spielte wohl auch ein Spiel seiner Kindheit.
Es sind nur 24 Kilometer bis Bassans. An einer Schleuse erwarten mich What’s Apps meiner Tochter Johanna, die ein Märchen und ein Gedicht geschrieben hat und mir per Sprachnachricht geschickt hat. Ich bin sakrisch stolz. Im Regen weiter über einen kleinen Hügel, der von der Doubs umlaufen wird, in den Flecken Rang zu meiner Unterkunft. Auf einmal geht es nicht mehr, die Achillessehne scheint in warmer Flüssigkeit und Schmerz zu schwimmen, ich muss in Schonhaltung gehen, werde so langsam, dass die Muskeln kalt werden und jeder Schritt schmerzt. Es regnet weiter; von den Hängen herunter stürzt sich das Wasser, reißt ein Bachbett in einen gewundenen Acker, dem ich bergab folge. Der neue Bach überquert zwei Mal meinen Pfad, ich schaffe es gerade so hindurch, ohne dass das Wasser in die Stiefel läuft.
„Bitte anrufen“, steht an der verschlossener Tür meiner Unterkunft zwischen zwei verfallenen Häusern in einem herunter gekommenen Dorf. Aber das Telefon tut nicht. Ich klingle einen Nachbarn heraus, der für mich telefoniert: 60 Jahre alt, blonde falsche Locken, knallrotes Hemd, sieht aus wie ein alternder Alleinunterhalter. Kurz über die Erbärmlichkeit und den nie endenden Lebensmut alternder Alleinunterhalter einen Roman der Weltliteratur geschrieben. („Der alte Mann und das Xyolophon?“). Ich warte im Regen, fühle, dass ich so nicht weitermachen kann und bin genauso geknickt wie mein Regenschirm, dem die mittlerweile fast 14 Tage schlechtes Wetter die Gräten gebrochen haben.
Madeleine, die Herbergsmutter kommt, ich bekomme ein japanisch eingerichtetes Zimmer, dekoriert mit einem Strohhut, sowie einem kirschblümigen Kimono und dito Bettwäsche. Ich sei der einzige Gast, sagt Madeleine, nein, ein Restaurant gebe es im Dorf nicht. Abends durchstreife ich das Haus nach etwas Essbarem, klaue im Kühlschrank etwas Wurst und Bananen, mache mir aus zwei Not-Marsriegeln und vier Brotscheiben zwei Marsburger, scheußlich ohne Ketchup.
18. 4
Meine Reichweite ist auf etwa fünf Kilometer Wandern geschrumpft. So geht es, mal wieder im wahrsten Wortsinn, nicht weiter. Ich muss mir eingestehen, dass mein Plan total schief gelaufen war. Ich war zu schwer, wollte unterwegs mindestens zehn Kilo Fett abnehmen, damit das Anfangs zusätzliche Gewicht des Rucksacks von ebenfalls zehn Kilo damit aufgewogen würde, um schließlich locker so wandern zu können, als hätte ich kein Gepäck. Jetzt habe ich ernsthafte Probleme. Ich suche in den Falten meines Bauches nach einem Plan B. Klar der Plan B war, ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Ich könnte auch mit dem Zug nach Le Puy fahren, und dann nach ein paar Ruhetagen in ganz kleinen Etappen mich weiter arbeiten. Aber dann könnte ich nicht nach Taizee und Cluny, wo ich immer mal hinwollte, denn da würde der Zug dran vorbeifahren.
Die vier Kilometer nach I’Isle de Doubs zeigen mir, es hat keinen Wert, ich kann nicht mehr. Ein Mann in einem weißen fensterlosen Lieferwagen hält neben mir, wo ich hinwolle? Zum Bahnhof. Hätte nicht einsteigen sollen. Im Auto versucht er, alter Zigeuner-Trick, oft genug im Polizeibericht beschrieben, mir wertlose Messer für teuer Geld anzudrehen, schließlich tut er so, als wisse er nicht, wo der Bahnhof sei, ich solle die ältere Passantin fragen, neben der er anhält. Ich frage, aber jetzt auf einmal kennt er den Weg zum Bahnhof. Er lässt mich dort aussteigen, doch meine schwarze Tasche mit den IPad fehlt. Ich steige nicht aus. Er sagt, er müsse schnell weiter, ich durchsuche den Fahrerraum des Lieferwagens, sehe zufällig den Bändel meiner Tasche unter dem Sitz und ziehe sie hervor. Er muss die Zeit genutzt haben, als er mich auf die ältere Passantin als Ablenkungsmanöver ansetzte, um die Tasche unter dem Sitz verschwinden zu lassen.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, wandere ich zum Bahnhof weiter. Warum hat der Typ nicht versucht, mir den Rucksack zu stehlen? Ich glaube, ich hätte so getan, als hätte ich nichts bemerkt. Ich fahre mit dem Zug ziemlich hoffnungslos nach Besancon und humple ins nächste Restaurant. Es ist ein Irisch Pub. Muss den Dietrich Bonhoeffer etwas umdichten: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir beim Bier, was kommen mag.
Also Plan B: Fahrrad kaufen für jetzt, gute Joggingschuhe und leichte Wanderstöcke kaufen für später. Schwere Bergstiefel heimschicken und irgendwie in Joggingschuhen über die Pyräneen kommen. Rüdigers Wanderstock verschenken. Schade drum. Der Weg lehrt dich, wie du ihn gehen musst, so wie dich das Leben lehrt, wie du es leben musst. Du darfst nur nicht vorher aufgeben. Oder, um den Vorrat meiner paar Lebensweisheiten gleich am Anfang der Pilgerreise völlig zu verballern: Es wird immer alles gut. Es wird nur ein einziges Mal in deinem Leben nicht gut. Dann wenn du stirbst. Und dann ist es voll egal.